Mo., 22.05.2017
Reportagen

Der letzte König der Straße

Schwere Arbeit, wenig Geld, der Ruf mies – im einstigen Traumjob Trucker sehen nur noch wenige Männer ihre Zukunft. Fernfahrer Mario Heintz hält trotzdem daran fest. Warum? Eine 3000 Kilometer lange Suche nach einer Erklärung.

"Der Nahverkehr macht dich kaputt“, sagt Mario Heintz. Und wenn es nach ihm geht, ist alles bis Moskau Nahverkehr. Der Fernverkehr, das richtige Fahren, das echte Fernfahrerleben, beginne erst dahinter. Und weil es das echte Fernfahrerleben ist, das mich interessiert, beginnt auch unsere gemeinsame Reise erst hinter Moskau. Genau genommen: 22 Kilometer südlich des Roten Platzes, an einem Ort, der das exakte Gegenteil des herausgeputzten Zentrums der russischen Hauptstadt ist: farblos, schwer befahren und ausgesprochen hässlich.

Eingekeilt zwischen stauverstopften Zubringerstraßen, klemmt die Tankstelle, die Mario und ich als Treffpunkt vereinbart haben, am südlichen Rand des MKAD, des 109 Kilometer langen StadtautobahnRings, der die 12-Millionen-Metropole umkreist.

Eine traurige Verkäuferin reicht mir im Tankstellen-Shop ein trauriges Sandwich, und als dessen Geschmack gerade beginnt, auch mich etwas traurig zu machen, höre ich hinter mir ein lautes Tröten. Ein schwarzer Lkw kommt zum Stehen, hinter der Scheibe ein „Bestie an Bord“-Schild, hinter dem Lenkrad: ein freundlich lächelndes Gesicht. Das erste an diesem Morgen. Das muss er sein. Mario.

Die Reise beginnt...

Wir sind uns noch nie begegnet, aber wir kennen uns seit gut einem Jahr. Ich hatte gelesen, dass den LkwFahrern der Nachwuchs ausgeht, und wollte wissen, wa rum das so ist. War doch mal ein Traumjob für viele Männer, „auf Achse“ und so. Also fuhr ich einen Tag lang mit einem Lkw-Fahrer namens Sigi durch Deutschland. Danach kannte ich die Antwort: weil es ein fürchterlicher Beruf ist. Ständiger Zeitdruck, schlechte Bezahlung, harte Konkurrenz. Dazu der miese Ruf: Die verstopfen unsere Straßen, überholen wie die Blöden, verpesten unsere Luft, und wer, bitte schön, außer diesen Typen, kauft wohl diese Travelpussys, die es auf jedem Autobahnklo gibt?

Zu all dem kommt: der öde Alltag. Rein ins Industriegebiet, raus auf die Autobahn, abladen im nächsten Industriegebiet, Papiere ausfüllen, tanken, und wenn du Glück hast, ist bei Esso Schnitzeltag. Freiheit, Abenteuer, „Auf Achse“-Feeling? Ich war naiv.

"Macht das denn noch wer?"

Gibt es das denn noch, dieses romantische Fernfahrerleben?“, fragte ich Sigi am Ende des Tages. „In Europa nicht. Da ist es überall gleich. Vielleicht wenn du richtig lange Strecken fährst“, sagte er. „Macht das denn noch wer?“ Sigi dachte nach. „Ein paar schon. Der Mario zum Beispiel. Der Verrückte fährt bis in die Mongolei.“ Ich rief Mario noch am selben Abend an. Er erzählte von Lagerfeuer-Schaschlik in Sibirien und Kamelen auf der Straße in Kasachstan. Wow, dachte ich, vielleicht taugt der Job des Lkw-Fahrers ja doch noch was?

Credit: Playboy Germany

„Spring rein, wir fahren am besten gleich weiter“, sagt Mario an der Tankstelle in Moskau. Er will den Autobahnring so schnell wie möglich hinter sich lassen. „Nicht dass die Verkehrspolizisten uns gleich noch anhalten.“ Warum die das tun sollten? „Die finden schon einen Grund.“ Mit dem Lkw auf dem MKAD zu fahren, ohne in irgendeiner Form zur Kasse gebeten zu werden, sei leider quasi unmöglich, erklärt er. Mal hat man tatsächlich gegen eine Regel verstoßen, mal einfach einen korrupten Polizisten erwischt. Besonders teuer wird die Mischung aus beidem. Heute aber, sagt Mario, könnte es tatsächlich mit der zahlungsfreien MKAD-Befahrung klappen. Nur noch wenige Kilometer, dann wäre es geschafft – zum ersten Mal in den sieben Jahren, die er nun nach Russland fährt.

250 Tage hinter dem Steuer

Mario ist 46 Jahre alt, hat ein freundliches Gemüt und sieht aus wie eine Mischung aus Bruce Willis und Fred Feuerstein. Wie alle Fernfahrer, die was auf sich halten, nennt er sich nicht Trucker, zu aufgeblasen, zu lächerlich klingt das, sondern Kraftfahrer. Und die Kilometer, die er in seinem Berufsleben schon zurückgelegt hat, würden reichen, um dreimal zum Mond und zurück zu fahren. Ihn zieht es aber eher nach Russland, Sibirien und Zentralasien. Das sind seine Lieblingstrips. Seine Lieblingsfracht: Vieh.

Weil er im Gegensatz zu den meisten Lkw-Fahrern gut mit Tieren umgehen kann und im Gegensatz zu den meisten Rinderzüchtern auch Lkw fahren, ist er ein gefragter Mann. Er sitzt etwa 250 Tage im Jahr hinterm Steuer und braucht drei Pässe für seinen Job, weil einer immer gerade in irgendeiner Visums-Antragsstelle liegt. Marios Auftrag bei unserer Reise: Er soll 33 Rinder zu einer Zuchtstation in Usbekistan bringen. Vor ein paar Tagen hat er sie in Norddeutschland geladen. Jetzt stehen und sitzen sie in dem zweistöckigen, knapp 17 Meter langen Anhänger, den sein Lkw zieht. Er nennt sie „meine Ladys“.

Moskau und zurück

Als wir, ohne kontrolliert worden zu sein, von der Moskauer Stadtautobahn abfahren und Mario in leisen Jubel ausbricht – „ein Wunder, einmalig!“ – hat er auf dieser Reise bereits 2000 Kilometer hinter und 3500 weitere vor sich. Die Fahrt wird ihn durch drei Länder, drei Zeitzonen und eine Wüste führen, über geteerte Straßen und zerschlagene Schlammpisten, vorbei an russischen Dörfern und kasachischen Friedhöfen, zu freundlichen Gastgebern und anstrengenden Grenzbeamten. Mario weiß all das genau. Denn er ist die Strecke allein in diesem Jahr schon ein Dutzend Mal gefahren.

Ein paar Stunden hinter Moskau: Langsam beginnt Russland, das bislang aussah wie ein besonders öder Teil Deutschlands, nach Russland auszusehen. Riesige Birkenwälder, flache Dörfer, alte Holzhäuser, Pilz-Verkäufer am Straßenrand. Mario sitzt auf seinem Fahrerplatz und blickt mit Gleichmut in die Ferne. Er wird in der knappen Woche, die ich ihn begleite, jeden Tag neun bis zehn Stunden lang so dasitzen. Und ich werde viel Zeit haben, mich mit dem Raum vertraut zu machen, in dem er den Großteil seines Lebens verbringt.

Er ist zwei mal zweieinhalb Meter groß, verfügt über zwei übereinanderliegende Schlafkojen, einen kleinen Kühlschrank und eine Menge Fächer, in denen Mario präzise Ordnung hält. Frachtpapiere, Landkarten, Wasserkocher, Instantkaffee, Mundwasser, Waschbeutel, ein Sixpack deutsches Bier: alles an seinem Platz. Wenn es stimmt, dass daheim dort ist, wo man gern aufräumt, dann ist Marios Fahrerkabine definitiv sein Zuhause.

„Einen Zweihunderter würde ich heute gern noch draufpacken“, sagt er, als es anfängt zu dämmern. Dann beginnt er zu erzählen. Davon, wie er sich auf dem Glatteis einer russischen Tankstelle mal das Bein brach und im Krankenhaus sein letztes Klopapier mit einem alten Russen teilte. Davon, wie nach einem Unfall in Aserbaidschan der Diesel aus seinem Tank auf die Straße lief und die Anwohner mit Plastikeimern herbeirannten, um den wertvollen Treibstoff aufzufangen. Und davon, wie er auf einer schlecht beschilderten Autobahn in Tschetschenien mal versehentlich zum Geisterfahrer wurde. Er verstand erst nach acht Kilometern, was eigentlich los war. Fernfahrergeschichten, Abenteuergeschichten. Er erzählt sie in einem Gemisch aus Thüringisch und Bairisch und mit großer Begeisterung. „Ich hab Tränen gelacht, einmalig, einwandfrei“, so enden sie fast alle. Diese Geschichten, das ahnt man, sind einer der Gründe, warum er seinen Job so mag. Sie sind auch einer der Gründe, warum andere seinen Job keine drei Tage lang ertragen würden.

Es ist schon dunkel, als Mario seinen Lkw auf einen menschenleeren Autohof steuert. Im dazugehörigen Lokal, kalt beleuchtet und kahl möbliert, sind wir die einzigen Gäste. Lächelnd und in seinem besten Russisch – die nötigsten Sätze hat er drauf – bestellt Mario Hühnersuppe und Buletten. Die Bedienung sieht ihn an, als hätte er gerade nach der Telefonnummer ihrer 14-jährigen Tochter gefragt. Kurz darauf stellt sie wortlos unsere Teller auf den Tisch und wendet sich wieder dem Fernseher zu. Eine russische Doku zeigt, wie die Amerikaner die Mondlandung gefälscht haben. „Ist halt Russland“, sagt Mario, als wir später in unseren Schlafkojen im Lkw liegen. Und ich frage mich, wie das wohl ist, wenn man jeden Abend nach zehn Stunden Fahrt allein mit seiner Hühnersuppe in so einem Laden sitzt.

"ich hatte schon immer Fernweh"

Der nächste Morgen. Mario mag seine „Ladys“. Man merkt das daran, wie er die Rinder behandelt – viel tätscheln, viel in die Augen sehen – und daran, wie er mit ihnen spricht. „Jetzt gibt’s was Leckeres zum Frühstück“, sagt er, als er frühmorgens auf dem Dach seines Auflegers steht und Heu hinabwirft. Ein junger Russe, der eine Weile Marios Truck bestaunt hat, kommt herbeigestapft. Ob er etwas Heu für seine Kaninchen abhaben könne, fragt er. Eigentlich seien seine Heuballen genau abgezählt, sagt Mario. „Aber nimm dir einen, ist okay.“ Was Mario dafür wolle? „Nichts. Passt schon.“ Als der Russe sein Heu einpackt, frage ich ihn aus Neugier, wie viele Hasen er denn habe. Er blickt kurz auf. „Wie viele brauchst du denn?“

Die Dinge funktionieren hier ein bisschen anders als bei uns, sagt Mario, während wir auf dem gut ausgebauten Ural-Highway weiter Richtung Osten fahren. „Die Leute müssen mit wenig über die Runden kommen. Da wird gehandelt, getauscht, einander geholfen. Wenn du hier mit dem Lkw ein Problem hast, bleibt sofort einer stehen und hilft dir. Bei uns fahren sogar die Kollegen von derselben Firma an dir vorbei.“

Mario ist in der DDR aufgewachsen. In Sonneberg, Thüringen, direkt an der innerdeutschen Grenze. Wenn er als junger Mann aus dem Fenster sah, konnte er hinüberblicken in den Westen. „Ich hatte schon immer Fernweh“, sagt er. Ende der 80er, er war 19 Jahre alt, beschloss er, gemeinsam mit einem Kumpel zu fliehen. Alles war vorbereitet, am nächsten Tag sollte es losgehen. Doch seine Mutter nahm ihn zur Seite: „Ich weiß, was du vorhast, bitte lass mich hier nicht allein.“ Mario rief seinen Kumpel an: „Tut mir leid, ich kann es nicht machen.“ Es war der 8. November 1989. Am nächsten Tag fiel die Mauer.

Mario fuhr mit einem Trabi hinüber in den Westen. Und bald schon mit einem Lkw hinaus in die Welt. Doch die Zeiten, als Trucker in Deutschland noch als coole Typen galten, die Jahre, als Manfred Krug als Franz Meersdonk „Auf Achse“ war, Terminfracht in den Iran lieferte und Stoff für Jungsträume in die Wohnzimmer, diese Ära hat Mario als Lkw-Fahrer nie erlebt.

Credit: Playboy Germany
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Als er Mitte der 90er begann, wurden Trucker bereits eher belächelt als bestaunt. Immerhin ließ sich noch gut Geld verdienen mit dem Job. Aber auch das änderte sich. Seit Ende der 90er-Jahre sind die Gehälter von Lkw-Fahrern fast nicht mehr gestiegen. Die Konkurrenz aus Osteuropa wuchs, die Belastung hinterm Steuer auch. Früher war ein Trucker vor allem: Fahrer. Heute ist er auch: Disponent, Lagerist und sein eigener Sekretär. „Immer nur in Deutschland Nahverkehr fahren, das könnte ich gar nicht mehr“, sagt Mario. „Jeden Tag dasselbe. Dazu der Stress. Und viele behandeln dich wie den letzten Dreck.“ Ein paar Jahre lang tat er sich anfangs den Nahverkehr an, dann begann er, nach Skandinavien und Spanien zu fahren, schließlich entdeckte er den, man kann es wohl so nennen, Interkontinental-Verkehr für sich. Je mehr der Job sich zu Hause veränderte, desto weiter fuhr Mario, um das alte Fernfahrerleben noch zu finden.

Wir überqueren die Wolga. Auf einem gigantischen Staudamm führt uns die Straße über Europas längsten Fluss. Er sieht aus wie ein Meer. „Wahnsinn, oder?“, sagt Mario, und man kann nur staunend nicken. „Wenn es im Winter gefriert, türmen sich überall riesige Eisschollen, das sieht gigantisch aus.“

Eher unspektakulär hingegen: unser Rhythmus in diesen Tagen. Aufstehen, Rinder versorgen, zwei Eier zum Frühstück – Mario isst immer zwei Eier zum Frühstück –, duschen, falls der Autohof eine Dusche hat, dann fahren, fahren, fahren. Mittags gibt es meistens Suppe mit Fleisch. Abends meistens auch, denn russische Autohöfe sind kein Ort für wählerische Esser. Schließlich: ein Feierabendbier. Am nächsten Tag alles von vorn. Immer dieselbe Routine. Aber Routine gibt Halt. Und Halt brauchst du, wenn dein Leben nur aus Bewegung besteht.

Mario kennt alle Folgen von "Auf Achse"

Wie er damit umgehe, so viel allein zu sein, frage ich Mario, als wir den Fluss Ural passiert haben, der die Grenze zwischen Europa und Asien markiert, und uns über Schlammpisten und Schlaglöcher Kasachstan nähern. „Man gewöhnt sich daran. Und ich habe ja das Ding da.“ Er zeigt auf sein Handy. Das Internet hat das Sozialleben der meisten Menschen um ein paar Annehmlichkeiten bereichert, das Sozialleben der Fernfahrer aber hat es revolutioniert. Während Mario in Richtung Zentralasien rollt, hat er quasi eine Standleitung nach Thüringen, wo er bis heute wohnt. Mal meldet sich seine Frau und erzählt, was seine 22-jährige Tochter und sein 15-jähriger Sohn so treiben, mal gratuliert ein Kollege zum „Wunder vom MKAD“, über das Mario die Fernfahrer-Welt natürlich in Kenntnis gesetzt hat. Und abends holt Mario sich manchmal seinen Freund Meersdonk in die Kabine. Per YouTube. Er hat alle Folgen von „Auf Achse“ gesehen. Seine Lieblingsepisode: „Kampfstiere nach Santa Maria“. Manchmal zitiert er daraus, während er seine Kühe nach Usbekistan fährt.


Mit einem Lkw und 33 Rindern eine Grenze zu überqueren ist nicht kompliziert. Es ist weit mehr als das. Jedes Rind hat einen eigenen Pass, und Marios Dokumentenmappe ist drei Zentimeter dick. Das ist alles, was man wissen muss, um sich ein ungefähres Bild von den bürokratischen Hürden zu machen, die Mario an der Grenze zu Kasachstan zu nehmen hat. Er bleibt guter Laune. „Ging doch“, sagt er, als es überstanden ist, „zwei Stunden, einwandfrei!“

Die Steppen- und Wüstenlandschaft Kasachstans, die wir in den folgenden Tagen durchqueren, erstreckt sich über mehrere Tausend Kilometer. Das Land ist flach und leer, der Himmel blau und weit, die Straße perfekt und nur das Tempolimit zum Weinen: 70 km/h. Das wirkt in dieser Umgebung wie eine besonders perfide Form der Folter. Irgendwo hinter Aktobe, der einzigen Großstadt im Nordosten Kasachstans, deutet Mario lächelnd auf sein Navi. Es zeigt eine lange gerade Linie an. Daneben steht: in 1532 Kilometern rechts abbiegen.

 

Wir haben etwa die Hälfte des Weges zu dieser fernen Kreuzung hinter uns, als wir gegen Mittag vor einem heruntergekommenen Hof am Straßenrand halten. Mario kennt die Besitzerin. Sie bewirtet in ihrem Wohnzimmer Gäste. Es gibt Kaffee und Gebäck, und als wir uns verabschieden, sehen wir in der Ferne einen See, der von einer Salzkruste überzogen zu sein scheint. Wir beschließen, ihn uns genauer anzusehen. Nach all den Tagen in der Fahrerkabine fühlt es sich befreiend an, über weichen Sand zu gehen, die milde Luft zu atmen und nur den Wind zu hören, der in den Ohren rauscht. So gehen wir also durch diese wüstenartige Landschaft in Richtung See. Vorbei an einem Friedhof, der mit seinen Mauern und Türmchen an eine kleine Tempelanlage erinnert. Vorbei an metergroßen verrosteten Metallteilen, die aussehen wie Reste eines Lkws. Vorbei an einem abgerissenen Pferdehuf, der zwischen kleineren Knochen im Sand liegt. Und als wir nach etwa einer halben Stunde begreifen, dass der See viel weiter weg ist als gedacht, und wir beschließen umzukehren, sagt Mario einen Satz, der lustig wie traurig zugleich ist: „Wow. So viel Kultur hab’ ich hier noch nie gemacht.“

Fernfahrertragik

Es ist die Tragik des Fernfahrers: Du fährst dein Leben lang um die Welt, aber du hast nie Zeit, sie dir anzusehen. Mario war schon über 50-mal auf dem MKAD, aber er hat noch nie einen Fuß ins Stadtzentrum von Moskau gesetzt. Bei jeder Usbekistan-Tour führt ihn die Strecke wenige Kilometer am Aralsee vorbei, aber er hat die bizarre Szenerie an den Ufern dieses Salzsees, dessen Austrocknen als eine der größten menschengemachten Umweltkatastrophen der Welt gilt, noch nie gesehen. Und vom russischen Weltraumbahnhof Baikonur, in dessen Nähe wir am vorletzten Tag unserer Reise übernachten, hat er auch noch nie mehr zu Gesicht bekommen als die gigantischen Satellitenschüsseln, die in der Landschaft stehen wie stählerne Pilze.

Credit: Playboy Germany

Der Morgen unseres letzten Tages. „Noch 500 bis Schimmi“, sagt Mario und klingt dabei, als kämen wir jeden Moment dort an. Er meint Schymkent, eine 700.000-Einwohner-Stadt im Süden Kasachstans. Ich werde dort in ein Flugzeug steigen und heimfliegen. Mario wird in seinem Lkw sitzen bleiben und weiterfahren: über die Grenze nach Usbekistan – „die ist richtignervig, kein Vergleich zur kasachischen“ –, dann zu einer Zuchtstation im Landesinneren. Und wenn er seine „Ladys“ abgeladen und sich zwei Tage erholt hat, wird er die ganze Strecke, ohne Ladung, wieder zurückfahren. Zähe Steppen-Kilometer, einsame Autohöfe, geschäftstüchtige Polizisten, alles von vorn. „Manchmal hab ich’s so satt, dass ich am liebsten alles hinschmeißen würde“, sagt Mario. „Aber nach einer Woche zu Hause schreit in mir alles nach der nächsten Tour.“

Kollegialität, Ruhe, Abenteuer, Anerkennung

Was Mario hier draußen, auf den endlosen Straßen ein paar Tausend Kilometer von zu Hause entfernt, findet? Kollegialität, Ruhe, Abenteuer, Anerkennung – weil Trucker hier draußen noch ein ehrbarer Job ist. Und hin und wieder: einen großen Moment. Einen wie diesen: Es müssen um die 30 Kamele sein, die plötzlich am Straßenrand auftauchen. Große, sanftmütige, erhabene Tiere. Mario hält an, steigt aus dem Lkw und spaziert in die Wüste. Langsam, bedächtig. Ein paar Hundert Meter vielleicht. Dann bleibt er stehen, steckt die Hände in die Hosentaschen und blickt in die Ferne. Vor sich: eine Herde Kamele, die in Richtung eines purpurroten Sonnenuntergangs läuft. Viele Menschen arbeiten hart, um sich irgendwann im Leben ein solches Erlebnis leisten zu können. Mario wird dafür bezahlt.

Als wir Schymkent erreichen, ist es fast Mitternacht. Mario parkt den Lkw am Rand einer mehrspurigen Einfallstraße, und wir machen uns hungrig und müde auf die Suche nach etwas zu essen. Aber alle Lokale sind entweder geschlossen oder von Hochzeitsgesellschaften belegt. Schließlich finden wir doch noch etwas. Ein junger Kasache führt uns durch ein leeres Restaurant in einen abgetrennten Saal. Der muss mal sehr schön gewesen sein. Stuck an den Wänden, samtbezogene Stühle an einem langen Banketttisch, darüber ein Kronleuchter. Aber alles ist fleckig, abgewetzt, ramponiert. Ein Kosmos aus mattem Glanz und stumpfem Kristall.

Und in diesem Saal, an einem großen Banketttisch, unter einem alten Kronleuchter, sitzt Mario dann am Ende unserer Reise.

Der letzte Mann in einer Welt, die ihre Pracht verloren hat. Aber nicht ihren Charme. Als der Kellner ihm die zehnte Suppe dieser Woche serviert, lächelt Mario kurz. „Einmalig hier,“, sagt er dann, „einwandfrei.“