Mi., 24.06.2020
Interviews

Lernen von den Schlauen, Folge 5

Ein Mann zwischen den Fronten: Strenggläubigen Muslimen denkt er zu weltlich, die Atheisten des Westens sehen in ihm einen Verteidiger des Islams. Dabei versucht der amerikanische Religionswissenschaftler Reza Aslan nur, der Vernunft eine Stimme zu geben: über verfehlte EU-Politik, gefährliche Pegida-Parolen und warum die Gewalt der Dschihadisten außer Kontrolle gerät.

 

Interview David Sheff

Er ist Religionswissenschaftler, Bestsellerautor, Universitätsprofessor und wohl einer der umstrittensten Intellektuellen der USA. Von vielen pauschal als Verteidiger des Islams abgetan, bereichert er die oft überhitzten Debatten zum Terror im Namen der Weltreligion regelmäßig um eine erfreulich differenzierte und erhellende Sichtweise auf die Dinge. Aslan, 1972 im Iran geboren und in den USA aufgewachsen, konvertierte als Jugendlicher zum Christentum und trat später wieder zum Islam über.

Playboy: Herr Aslan, wie ist es, zurzeit als Verteidiger des Islams zu gelten?

Aslan: Ich kriege es von beiden Seiten ab: Die Glaubensgemeinschaften sagen, meine Religionsauslegung sei zu weltlich, und die Atheisten stellen mich als Verteidiger der Religion dar, weil ich den Glauben nicht als irrational verurteile.

Playboy: Überrascht es Sie angesichts der extremen Gewalt, die im Namen des muslimischen Glaubens ausgeübt wird, dass der Islam in der Kritik steht?

Aslan: Religiöse Minderheiten mussten im Lauf der Geschichte immer wieder als Sündenbock herhalten. Nehmen Sie die USA als Beispiel, die einst auf dem Prinzip der Religionsfreiheit gegründet wurden. Im 19. Jahrhundert wurde eigens ein Bundesgesetz erlassen, um die Einwanderung von Katholiken einzudämmen. Später, zwischen den beiden Weltkriegen, erreichte dann der Antisemitismus ein groteskes Ausmaß. Damals war sich selbst ein Henry Ford nicht zu schade, seine Filialen im Land anzuweisen, Autos nicht an Juden zu verkaufen.

Playboy: Sie vergleichen westliches Gedankengut heute mit dem Antisemitismus von damals?

Aslan: Dieselben Beschuldigungen, die damals über die Juden zirkulierten, sind nun über die Muslime im Umlauf: „Das ist keine Religion, sondern eine politische Ideologie.“ – „Wie kann man gleichzeitig dem Islam und Amerika gegenüber loyal sein?“ In ein paar Jahren werden unsere Kinder auf die antimuslimische Rhetorik zurückblicken, die in Amerika heute gang und gäbe ist, und sich fragen, was zum Teufel mit uns los gewesen ist. Dann werden wir uns wieder einen neuen Buhmann suchen.

"Religion ist das ideale Mittel, um Frustration auszudrücken"

Playboy: Doch bis es so weit ist, werden weiter unsägliche Gräuel von Menschen verübt, die sich auf den Islam berufen.

Aslan: Die Gewalt im Namen des Islams ist völlig außer Kontrolle geraten. Besonders im Nahen Osten, wo enorme politische, ökonomische und soziale Instabilität herrscht. Das sind Voraussetzungen, unter denen religiöser Radikalismus zu Tage tritt, egal, von welcher Religion wir sprechen. So hat etwa die instabile Zentralafrikanische Republik mit christlichem Radikalismus zu kämpfen. Das geht so weit, dass christliche Jugendliche Frauen und Kinder mit Macheten abschlachten. In Myanmar, einem instabilen Land mit buddhistischer Mehrheit, gibt es Ausbrüche extremer buddhistischer Gewalt. Frauen und Kinder werden hier im Namen des Buddhismus von plündernden Mobs ermordet.

Playboy: Dennoch lässt sich nicht bestreiten, dass viele der brutalsten Angriffe von islamistischen Fundamentalisten verübt werden – man denke nur an Paris.

Aslan: Die tragischen Angriffe in Paris sind das Ergebnis einer Identitätskrise, unter der große Teile Europas seit Jahrzehnten leiden. Für viele Europäer wird es zunehmend schwer zu definieren, was es bedeutet, deutsch, britisch oder französisch zu sein. Die EU hat zur Auflösung der Grenzen zwischen den Nationen geführt. Die nationale Identität, früher das Fundament Europas, wurde stark verwässert. Wenn dieser Prozess schon Einheimischen Schwierigkeiten bereitet, um wie viel härter muss er dann für Immigranten sein, besonders für jene aus Nordafrika und dem Nahen Osten?

Playboy: Warum ausgerechnet für sie?

Aslan: Viele wurden in nach Ethnien abgegrenzte Siedlungen gesteckt, wo sie kaum Gelegenheit hatten, sich in die Gesellschaft zu integrieren. In vielen Fällen erhielten sie nicht einmal die Staatsbürgerschaft. Diese Leute fühlen sich weder Europa noch dem Nahen Osten zugehörig. Kein Wunder, dass in ganz Europa eine Polarisierung stattfindet: Auf der einen Seite bilden sich ultranationalistische, sogar neonazistische Gruppen wie Pegida in Deutschland oder die Ukip-Partei in England, die alle Probleme den Einwanderern und dem Multikulturalismus anlasten. Und auf der anderen Seite wachsen identitätslose Jugendliche heran, die sich von den Bürgern des eigenen Landes verfolgt fühlen. Das ist der Grund, warum der Dschihadismus in Europa Fuß fassen konnte. Dieses Identitätsvakuum bildet den idealen Nährboden. 

Playboy: Inwiefern?

Aslan: Die Botschaft der Dschihadisten an Europas junge Muslime lautet: Der Grund dafür, dass ihr euch nicht britisch, französisch oder deutsch fühlt, ist, dass ihr es nicht seid. Ihr seid auch keine Türken, Algerier oder Pakistaner. Ihr besitzt überhaupt keine nationale Identität. Schon das Konzept von Nationalität gilt als Sünde, es ist dem Islam ein Dorn im Auge. Aus Sicht der Dschihadisten sind diese Leute Muslime, mehr nicht. Sie sind Teil einer verfolgten globalen Gemeinschaft, und es ist ihre Pflicht, bei der Verteidigung des Islams zu helfen. Diese Botschaft klingt für viele muslimische Jugendliche in Europa sehr verführerisch. Man muss sie mit dem ernsthaften Versuch parieren, diese jungen Leute zu einem Teil von Europa zu machen und ihnen das Gefühl zu geben, dass hier ihre Heimat ist. Schaffen wir das nicht,  werden wir noch viele Jahre lang mit den tragischen Konsequenzen leben müssen.

Playboy: Sind junge Menschen für die Indoktrination extremer Religionsformen besonders anfällig?

Aslan: Ja, sie fühlen sich zum Fundamentalismus hingezogen, da er vorgefertigte, simple Antworten auf Fragen liefert, die in diesem Alter aufkommen. Deshalb erleben wir, dass viele extremistische Gruppen auf der ganzen Welt von jungen Leuten geradezu überlaufen werden.

Playboy: Als ein Motiv für islamistische Selbstmordattentäter wird häufig das Versprechen genannt, im Jenseits mit 72 Jungfrauen belohnt zu werden. Ist das wirklich ein Argument?

Aslan: Nein. Die Leute wären überrascht, was für eine unbedeutende Rolle Religionen wie der Islam bei solchen Anschlägen spielen. Fast die Hälfte aller Selbstmordattentäter in den letzten 30, 40 Jahren waren Nationalisten, die sich aus Gründen in die Luft gesprengt haben, die man nur als weltlich bezeichnen kann. Die andere, religiös motivierte Hälfte setzt sich aus Christen, Muslimen und religiösen Minderheiten zusammen. Von den Selbstmordattentätern, deren Mission scheiterte, erwähnte in Verhören fast keiner irgendwelche Jungfrauen oder die Aussicht auf eine Belohnung nach dem Tod.

Playboy: Sondern?

Aslan: Am häufigsten wird eine Mischung aus religiösen, politischen und wirtschaftlichen Gründen genannt. Oft geben sie auch an, es wegen der sehr realen finanziellen Belohnung getan zu haben, die ihren Familien versprochen wurde.

Playboy: Stimmen Sie zu, dass die US-Politik – etwa mit ihrem Krieg gegen den Terror, dem Einsatz von Drohnen und den damit verbundenen Kollateralschäden – religiösen Fanatismus befeuert?

Aslan: Wir wissen seit Langem, dass Religion ein wirksames Mittel ist, um gesellschaftliche Probleme anzuprangern, da sie von der breiten Masse anerkannt wird. Wenn man Ausgrenzung oder Vertreibung erlebt, wenn unüberwindbare Missstände bestehen, wenn man unerfüllbare Wünsche hegt, wenn man das Gefühl hat, die eigene Sicherheit und Identität seien in Gefahr, ist Religion das ideale Mittel, diese Frustration auszudrücken. Natürlich fördert der willkürliche Abwurf von Bomben auf die Zivilbevölkerung religiösen Extremismus. Natürlich führen auch Vertreibung und das Vorenthalten von Chancen dazu.

Playboy: Wenn dem so ist, wie sollte dann auf Enthauptungen, Selbstmordattentate und andere Terrorakte religiöser Fundamentalisten reagiert werden?

Aslan: Wir müssen uns eines klarmachen: Der Fundamentalismus ist ein reaktionäres Phänomen. Er ist die Antwort auf sozialen Fortschritt, auf Liberalismus, auf wissenschaftliche Errungenschaften. Es wird ihn so lange geben, wie es Fortschritt gibt. Es wird immer Leute geben, die – wohl aus dem Gefühl heraus, von diesem Fortschritt ausgenommen zu sein – auf starre, grundsätzliche Prinzipien ihres Glaubens zurückfallen. Aber ich habe auch kein Problem mit Fundamentalisten. Ich habe nichts gegen Andersdenkende. Ich habe etwas dagegen, wenn ihre Überzeugungen Taten gebären, die gegen Menschenrechte verstoßen. Deshalb: Wir sollten uns nicht auf die Überzeugungen eines Menschen konzentrieren, sondern auf seine Taten.

"Wenn man sich beruflich mit Weltreligionen beschäftigt, fällt es schwer, eine davon allzu ernst zu nehmen"

Playboy: Doch diese Überzeugungen ziehen Taten nach sich, schreckliche Taten.

Aslan: Wenn man Gläubige und Extremisten in einen Topf wirft, stößt man die Gläubigen vor den Kopf. Sie wenden sich von uns ab, obwohl sie eigentlich unser wertvollstes Gut bei unserem Einsatz gegen Fanatismus und Extremismus darstellen.

Playboy: In welcher Hinsicht?

Aslan: Extremisten oder Fanatiker, die grundlegende Menschenrechte verletzen, muss man mit den stärksten Waffen schlagen, die man hat – militärisch, ideologisch, rechtlich und auf sonstige Weise. Wir müssen uns aber bewusst sein, dass ein beträchtlicher Teil der Unterstützung für diese Fanatiker durch den Eindruck entsteht, sie kämpften für die Rechte der unterdrückten Massen. Der IS lockt die Menschen an, indem er vorgibt, sich um ihre Nöte zu kümmern. Solange wir nicht selbst etwas zur Linderung dieser Not beitragen, können wir vielleicht etwas gegen die militanten Anhänger tun, aber nicht gegen die Ideologie dahinter.

Playboy: Gilt das auch für die Taliban?

aslan: Ja, insofern, als die Not ernst genommen und für Abhilfe gesorgt werden muss. Allerdings besteht ein wichtiger Unterschied zwischen Gruppen wie al-Qaida und IS und Gruppen wie Hisbollah und Hamas. Diese Gruppen gleichzusetzen, wie Benjamin Netanjahu es aus Gründen der Propaganda immer wieder tut oder wie George W. Bush es tat – nicht aus Propagandagründen, sondern aus schierer Ignoranz –, ist ein gefährliches Missverständnis.

Playboy: Worin besteht der Unterschied?

Aslan: Al-Qaida und IS sind dschihadistische Organisationen. Hamas und Hisbollah sind islamistische Organisationen. Ein Islamist ist ein religiöser Nationalist. Sein Streben reicht nur bis an die Grenzen dessen, was er als seinen Nationalstaat betrachtet. Die Hisbollah hegt keinerlei Interesse an einer nicht nationalistischen Ideologie. Die Hamas will Palästina, sonst nichts. Wenn man konkrete, messbare Ziele hat, besteht Spielraum für Diskussionen, Dialoge, Verhandlungen. Und, am wichtigsten, es besteht Spielraum für Mäßigung. Wir wissen aus Erfahrung, was passiert, wenn islamistische Gruppen die Möglichkeit erhalten, am politischen Geschehen mitzuwirken: Entweder sie mäßigen ihre Ideologie, so wie es die AKP in der Türkei getan hat, und haben großen politischen Erfolg. Oder sie mäßigen ihre Ideologie nicht, so wie die Muslimbruderschaft in Ägypten, und dann gehen sie mit wehenden Fahnen unter. Die Dschihadisten hingegen sind mehr als transnationalistisch, sie sind antinationalistisch. IS und al-Qaida hegen nicht nur kein Interesse an der Errichtung einer Nation, sie wollen vielmehr alle Nationalstaaten abschaffen. Sie sehnen sich nach einer Welt, die allein unter ihrer Kontrolle steht. Das ist es, was das Kalifat für sie bedeutet: eine neue Weltordnung.

Playboy: US-Präsident Obama betont ebenso wie viele deutsche Politiker immer wieder, dass Gewalt durch muslimische Extremisten nicht den Islam widerspiegelt. Wie wichtig ist es, dass er das tut?

Aslan: Er ist schlau genug zu wissen, dass die vereinfachte und bigotte Rhetorik, die wir so oft von antimuslimischen Gruppierungen hören, eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellt. Ich möchte allerdings darauf verweisen, dass Obama sich, rein technisch gesehen, irrt. Die Mitglieder des IS sind aus dem einfachen Grund Muslime, weil sie sich als solche bezeichnen. Wir können ihnen zwar vorwerfen, dass ihr Islam eine extreme Ausprägung des Islams darstellt, dass er dem Koran zuwiderläuft, dass er dem widerspricht, was die überwältigende Mehrheit von Muslimen auf der Welt denkt – doch die Muslime haben keinen Papst. Es gibt keinen muslimischen Vatikan, der entscheidet, wer Muslim sein darf und wer nicht.

Playboy: Sie sagen, der Islam des IS liefe dem Koran zuwider. Aber entspricht er nicht einfach deren Lesart des Korans?

Aslan: Stimmt. Sie suchen sich die Stellen aus, die ihnen gefallen, und ignorieren die, die ihnen nicht gefallen – wie übrigens jeder Muslim und jeder Religionsanhänger auf der ganzen Welt es tut. Es ist nicht ungewöhnlich, dass zwei Anhänger desselben Glaubens ein und denselben Vers einer religiösen Schrift vollkommen unterschiedlich interpretieren. Vor 200 Jahren haben sich in Amerika sowohl Sklavenhalter als auch Gegner der Sklaverei auf die Bibel berufen, um ihre Standpunkte zu untermauern. Ja, sie haben dabei sogar auf dieselben Stellen verwiesen.

Playboy: Wenn Religion von jedem nach seinem Willen ausgelegt werden kann, verliert sie dann nicht ihre Bedeutung?

Aslan: Das wäre eine zu starke Vereinfachung. Ich glaube, der Koran ist göttlich inspiriert. Ich glaube, die Bibel ist göttlich inspiriert. Ich glaube, die Bhagavad Gita ist göttlich inspiriert. Ich glaube, auch „Abbey Road“ ist göttlich inspiriert.

Playboy: Sie wurden als Muslim geboren, sind dann konvertiert und haben mehrere Jahre an Jesus als Erlöser geglaubt. Was hat Sie dazu veranlasst, zum Christentum zu konvertieren?

Aslan: Ich wuchs in einer Familie gemäßigter Muslime und brennender Atheisten auf. Meine Mutter war muslimisch. Sie stammte aus einer Kultur, in der der Islam die Identität bestimmte, ähnlich wie das Christentum die Identität vieler Amerikaner bestimmt. Mein Vater wiederum war militanter Atheist – er war richtiggehend antireligiös. Und sein Misstrauen in die Religion hat sich letztlich als unsere Rettung erwiesen.

Playboy: Inwiefern?

Aslan: Mein Vater, der niemandem mit Turban traute, war nicht bereit abzuwarten, wie sich die Revolution von 1979 entwickeln würde. Bei seiner Rückkehr verkündete Ajatollah Khomeini damals, er habe kein Interesse an einem politischen Amt, sondern wolle lediglich zu seinem Studium und seiner Familie zurückkehren. Als mein Vater das hörte, sagte er nur: „Quatsch.“ Er fand, wir sollten den Iran lieber verlassen, bis sich die Lage beruhigt hat. Wie sich herausstellte, hatte mein Vater Recht – was er mir bis zu seinem Tod jeden Tag aufs Butterbrot schmierte.

Playboy: Warum wurden Sie Christ?

Aslan: Im Iran war ich vom Islam geprägt worden, aber als wir in den 80er-Jahren in die USA kamen, herrschte dort eine stark antimuslimische Stimmung. In den ersten Jahren habe ich mich sogar als Mexikaner ausgegeben – was die Sache natürlich auch nicht besser machte. Sich in den USA als Mexikaner eine bessere Behandlung zu erhoffen, verrät einiges darüber, in welcher misslichen Lage meine Glaubensgemeinschaft damals steckte. Wir tilgten alles aus unserem Leben, was uns mit dem Islam in Verbindung gebracht hätte. Meine Mutter betete zwar hin und wieder, aber wir hätten uns nie ernsthaft als Muslime bezeichnet.

Playboy: Haben Sie an Gott geglaubt?

aslan: Ich glaubte an Gott, hatte aber kein Bezugssystem für meinen Glauben. Irgendwann besuchte ich mit ein paar Freunden ein evangelisches Jugendlager in Kalifornien und hörte zum ersten Mal das Evangelium, diese unglaubliche Geschichte vom Gott des Himmels und der Erde, der in Gestalt eines Kindes zu den Menschen kommt und für ihre Sünden stirbt. Und davon, dass jedem, der sich zum Evangelium bekennt, das ewige Leben gehört. Das war ein prägendes Erlebnis für mich.

Playboy: Warum haben Sie sich schließlich vom Christentum abgewendet?

Aslan: Ich war an einen extrem konservativen, fundamentalistischen Zweig des evangelischen Glaubens geraten, der auf einer wortgetreuen und unfehlbaren Bibel-auslegung basierte. Aber ich war nie jemand, der irgend etwas einfach so akzeptiert hätte. Ich fand heraus, dass in der Bibel nicht ganz das stand, was dort laut Pfarrer stehen sollte. Obwohl ich erst 16 oder 17 war, meldete ich mich in den Bibelstunden und sagte: „Ich bin mir nicht sicher, dass das hier wirklich so steht.“ Das Einzige, was ihnen dazu einfiel, war, mir die Hand aufzulegen, um meine Zweifel wegzubeten. Ich merkte rasch, dass zwar meine spirituellen Bedürfnisse befriedigt wurden, in dieser bestimmten Gemeinde jedoch etwas von Grund auf schieflief.

Playboy: Als Sie sich vom Christentum abgewendet haben, hat sich Ihre Wut da auf die Menschen gerichtet, die die Bibel so streng ausgelegt hatten, oder auf die Bibel selbst?

Aslan: Als ich an der Uni Religionswissenschaften studierte, merkte ich nach fünf Minuten, dass die Bibel vor eklatanten Fehlern und Widersprüchen nur so strotzt. Und da mein spirituelles Gebäude bis dahin auf einem Fundament von Unfehlbarkeit und Buchstabentreue beruht hatte, brach alles zusammen. Ich war tief enttäuscht. Mein Groll richtete sich allerdings gegen das Christentum im Allgemeinen. Ich gebe es ungern zu, aber eine Zeit lang verspürte ich Genugtuung dabei, die Überzeugungen gläubiger Christen zu zerpflücken. Es war wohl eine Art Rache dafür, dass ich mich hinters Licht geführt fühlte. Doch dann geschah zweierlei: Erstens konnte ich nicht länger ignorieren, dass diese Fundamentalisten, deren Gewissheit ich mit so großem Vergnügen zunichtemachte, wesentlich glücklicher wirkten als ich. Und zweitens verstand ich im Lauf meines Studiums immer besser, was Religion eigentlich ist und wie stark sie sich vom Glauben unterscheidet. Wir setzen Religion und Glauben immer gleich, doch das ist grundfalsch.

Playboy: Erklären Sie uns den Unterschied.

Aslan: Der Glaube ist individuell und unbeschreiblich. Die Religion ist nichts weiter als die Sprache, in der der Glaube ausgedrückt wird. Viele religiöse Menschen haben ihre religiöse Identität gemeinsam mit ihrer kulturellen, ethnischen und nationalen Identität erworben. Sie gehen davon aus, dass ihre persönliche Religionserfahrung dieselbe ist wie die
aller anderen Menschen. Das Ironische daran ist, dass Religionskritiker oft demselben Fehler aufsitzen, nur andersherum. Sie studieren Schriften oder theologische Beweise und schließen daraus auf die Erlebnisse religiöser Menschen. Ich befinde mich irgendwo in der Mitte zwischen tiefgläubigen Religionsanhängern und atheistischen Säkularisten. Von dieser Position aus ist leicht zu erkennen, dass keiner die Welt des anderen versteht. Dies verschafft mir auf der einen Seite einen Beruf und auf der anderen große Kopfschmerzen.

Playboy: Ein wie streng gläubiger Muslim sind Sie heute?

Aslan: Wenn man sich beruflich mit den Weltreligionen beschäftigt, fällt es irgendwann schwer, eine davon allzu ernst zu nehmen. Man erkennt, dass Religion nichts anderes ist als eine „Sprache“ aus Bildern und Metaphern, mit der etwas Universelles ausgedrückt wird. Oder, um es anders zu sagen: Religionen stellen lediglich unterschiedliche Wege zum selben Ziel dar. Wenn man jedoch ein erfülltes spirituelles Leben führen will, ist es wichtig, sich für einen dieser Wege zu entscheiden. Buddha hat gesagt, wenn man Wasser finden will, soll man nicht viele seichte Brunnen graben, sondern einmal einen tiefen Brunnen bohren. Der Islam ist mein tiefer Brunnen. Aber wie Buddha weiß ich, dass, egal, welchen Brunnen man nutzt, man immer auf dasselbe Wasser stößt.

Playboy: Ihre Frau stammt aus einer alteingesessenen Pittsburgher Familie evangelischer Protestanten. In welchem Glauben werden Ihre Kinder erzogen?

Aslan: Wir wollen, dass sie mit allen religiösen Sprachen der Welt vertraut sind. Wenn sie irgendwo sind, wo sie ihren persönlichen Glauben ausdrücken möchten, können sie sich aussuchen, welche Sprache ihnen am liebsten ist – ob das nun der
Islam ist wie bei mir, das Christentum wie bei meiner Frau oder eine ganz andere Sprache. Es spielt keine Rolle, solange sie einen Weg einschlagen und nach Spiritualität suchen.  

Titelbild: Playboy Deutschland