Mi., 13.03.2019
Entertainment

Streitschrift: Hört auf zu klagen, ihr seid erwachsen!

Geschlecht, Herkunft, Identität: Warum alle heute so verletzlich sind? Weil es - fatalerweise - von echten Problemen ablenkt, warnt unser Autor Robert Pfaller.

"Caution: Adult Language" - Symptomatische Warnung im Flugzeug

Auf einem Flug in die USA, als ich mir in der Bordvideothek den Film „Amour“ von Michael Haneke ansehen wollte – bekanntlich alles andere als ein Porno –, erhielt ich eine Warnung: Dieser Film enthalte „Erwachsenensprache“ („adult language“), die möglicherweise meine Gefühle verletze. Die Warnung erschien mir symptomatisch. Leben wir doch in einer Zeit angeblich enormer, fast kindlicher Schonungsbedürftigkeit. Egal, in welchem Alter.

Ja, wir sind heute extrem sensibel. Vor allem was die Sprache betrifft. Geschlechtersensibel, kultursensibel, selbst verschiedene Altersgruppen fühlen sich mittlerweile gern voneinander diskriminiert. „Junges, dynamisches Team sucht ...“: Eine Stellenausschreibung wie diese verletzt Menschen über 40 mittlerweile, sie verbietet sich deshalb bereits juristisch.

Frauen gehören jetzt sichtbarer gemacht

Und öffentlich Bedienstete sind schon seit Jahren angehalten, eine sogenannte geschlechtergerechte Sprache zu gebrauchen – unter anderem, weil Frauen jetzt angeblich „sichtbar“ gemacht werden müssen. Als ob der Playboy das nicht immer schon geleistet hätte!

Mit dieser verpatzten Metapher ist jedoch keine Fotografie gemeint, sondern, dass man in der Sprache immer auch die entsprechende weibliche Form hinzufügen sollte, wenn man zum Beispiel von Bauarbeitern, Bomberpiloten, Päderasten oder faschistischen Philosophen spricht – denn manche Frauen könnten sich sonst nicht gemeint fühlen.

Ebenso gehört an Abkürzungen akademischer Titel wie „Dr.“ hinten noch ein „in“ dran, wenn die titulierte Person weiblich ist – obgleich die Kurzform bereits geschlechtergerecht war, da sie ja gar keine männliche Endung besaß.

Zumindest am stillen Örtchen findet auch das dritte Geschlecht Anerkennung

Nur bei den Toiletten machen wir es umgekehrt. Da muss die elende Zweiteilung in Herren und Damen endlich weg. Denn sie kann ja offensichtlich – Stichwort Urinal – nur erfunden worden sein, um Frauen zu diskriminieren. In der Sprache aber ist die Zweiteilung erwünscht, das sogenannte Splitting: Es muss immer Frauen und Männer statt Menschen heißen – wobei, Vorsicht, bitte!

Es gibt weit mehr als zwei Geschlechter, es existieren ungezählte geschlechtliche Identitäten, die sich durch einfaches Splitting schnell benachteiligt fühlen. Darum muss nun zumindest eine dritte Klotür her, damit alle, die im zweipoligen Geschlechterschema keinen Platz für sich sehen, wenigstens am stillen Ort Anerkennung finden.

Credit: Michael Pleesz für Playboy

Aus demselben Grund wurde übrigens vor Kurzem an der Universität von Michigan eine Aufführung des feministischen Stücks „The Vagina Monologues“ von Eve Ensler abgesagt. Von diesem Titel könnten sich transsexuelle Personen verletzt fühlen, lautete die Begründung. Schließlich besäßen nicht alle Frauen eine Vagina. Die Politik der Verletzlichkeit, die zunächst fälschlich als eine Waffe des Feminismus erschienen sein mag, dient inzwischen auch zur Unterdrückung feministischer Kunst.

Wohin die Propaganda der Empfindlichkeit führt

Und das ist das Entscheidende an der Propaganda der Empfindlichkeit: Sie führt nicht nur zu lauter kindischen und einander völlig widersprechenden Forderungen. Sie richtet sich vor allem letztlich immer gegen die Interessen selbst derjenigen, in deren Namen sie zu sprechen behauptet.

Das liegt in der Natur der Sache. Denn es ist ein schwerwiegender Irrtum zu meinen, dass man Menschen Respekt entgegenbringt, indem man ihnen grenzenlose Verletzlichkeit unterstellt. Das Gegenteil ist der Fall. Respekt und Anerkennung bestehen darin, dass man der anderen Person Mündigkeit zuspricht – gleichgültig, welchen Geschlechts, welcher sexueller Orientierung, Herkunft oder Religion die Person ist.

Von jedem und jeder (und allen anderen) darf erwartet werden, dass sie als erwachsene Menschen in der Lage sind, über kleine Widrigkeiten hinwegzusehen, böse Worte notfalls mit anderen bösen Worten zu kontern und dumme Bemerkungen entweder zu überhören oder aber sie durch kluge Erwiderungen zu entlarven.

Mündigkeit beinhaltet eine Reihe von sozialen Verpflichtungen, wie eben zum Beispiel die zu einem Minimum an Resolutheit und an Fähigkeit zur Überwindung. Sie bringt aber auch Rechte mit sich, wie zum Beispiel das Wahlrecht.

Fühlen ist das neue Denken

Anderen diese elementare Fähigkeit erwachsener Vernunft abzusprechen ist die schlimmste Verachtung, die man jemandem entgegenbringen kann. Darum ist es nicht nur lächerlich, mich vor einem Film wie „Amour“ – der schließlich von existenziellen Fragen wie Alter, Demenz und Sterben handelt – zu warnen, weil vielleicht mal ein Wort wie „Arsch“ darin vorkommt.

Es ist eine Provokation. Man sollte Leute, die solche verächtlichen Warnungen aussprechen, verklagen können.

An manchen englischsprachigen Universitäten sagen Studierende zueinander nicht mehr: „Ich stimme deinem Argument nicht zu.“ Sie sagen stattdessen: „Was du sagst, verletzt meine Gefühle.“ Fühlen ist das neue Denken. Und wer das mit einem gewissen Schrecken erkennt, steht unweigerlich vor der Frage: Wie konnte es dazu kommen?

Credit: PR

Ich hätte dazu eine These anzubieten, die lautet: Die Beseitigung von Mündigkeit im öffentlichen und politischen Diskurs ist eine Folge der Rückentwicklung der Sozialpolitik in den vergangenen 30 bis 40 Jahren. Die zunehmende Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse und die immer massiver werdende gesellschaftliche Ungleichheit ließ in den westlichen Industrieländern eine postmoderne sogenannte Kulturlinke heranwachsen.

Diese Denkschule hat die Sozialpolitik immer weiter aus der Realität auf die Ebene der Sprache verlagert. Als Ersatzbefriedigung menschlicher Bedürfnisse, die in der wirklichen Politik keine Rolle mehr spielten. Gestatten Sie mir dazu einen Exkurs?

Schmerz- statt Heilmittel

Die Wirtschaftspolitik diente bis in die 70er-Jahre hinein vor allem einer gesunden Volkswirtschaft und versuchte, die Menschen vor Konjunkturschwankungen zu schützen, sie in Beschäftigung zu bringen und die Gleichheit ihrer Lebensverhältnisse zu wahren.

Doch in den 80er-Jahren schwenkten die konservativen Regierungen unter Ronald Reagan, Margaret Thatcher und hierzulande Helmut Kohl um in einen fortschreitenden Neoliberalismus – ausgehend von einer zunächst strengen staatlichen Haushaltspolitik, die Steuersenkungen für Unternehmen und betriebswirtschaftliche Rentabilität auch für volkswirtschaftlich wichtige Bereiche wie Gesundheit, Pensionsvorsorge, Infrastruktur und Bildung vorsah.

Im gleichen Maße aber, in dem man den Menschen so die elementaren sozialen Sicherungen entzog – was auch die sozialdemokratischen und grünen Parteien, die nach 1980 an die Regierung kamen, fortsetzten –, sorgte man sich ersatzweise mehr und mehr um ihr Zartgefühl. Sozialpolitik wurde Sprachpolitik. Man verschrieb Schmerz- statt Heilmittel.

Statt Chancengleichheit gab es bald „diversity“, statt progressiver Unternehmensbesteuerung kam Erziehung zur Neubenennung ethnischer Gruppen, und statt Kinderbetreuungseinrichtungen erhielt man typografische Verbesserungen wie das Binnen-I, den „underscore“ oder das Sternchen, damit nun wirklich keine sexuelle Identität oder Orientierung sich ausgeschlossen fühlen möge.

"Werden Sie doch homosexuell!"

Indem man immer neue, noch marginalere Opfergruppen wie zum Beispiel die Queers entdeckte, ersparte man es sich, die Probleme der zuletzt adressierten Gruppen wie Frauen, Alleinerziehende, Homosexuelle usw. zu lösen. Jede neue Gruppe galt nicht als Träger eines eigenen Problems, sondern als die Lösung der Probleme der übrigen.

„Sie kommen mit der patriarchal geprägten Heterosexualität nicht zurecht? – Na dann werden Sie doch homosexuell! – Ah, und Sie stoßen in der Homosexualität auf Probleme wie Ehe, Adoption, Macht oder Eifersucht? – Na, dann werden Sie doch queer!“ Klarerweise brachte diese Politik nicht einmal für die Queers entscheidende Verbesserungen.

Denn statt korrekter Benennung, „Anerkennung“ oder „Sichtbarkeit“ hätten die Angehörigen dieser Gruppen wohl eher eine zum Leben ausreichende Grundsicherung benötigt.

So zart und angreifbar ist kein erwachsener Mensch

Die Verlagerung der ökonomischen Probleme auf das Feld der Kultur löste die Probleme nicht, sondern produzierte immer neue. Und das gravierendste davon ist wohl die geschickt geschürte, mittlerweile allumfassende Empfindlichkeit: Wo immer weniger Menschen Zukunftschancen sehen, blicken immer mehr auf ihre Herkunft.

Und wo kaum jemand hoffen kann, etwas Interessantes zu werden, hofft jeder, wenigstens etwas Kostbares, Verletzliches zu sein. Man gibt sich nun immer öfter in seiner Identität verletzt und wünscht sich, für dieses letzte verbliebene Humankapital mit irgendeinem winzigen Bonus belohnt zu werden.

Aber das ist ein schlechter Tausch. So zart und angreifbar, wie man uns glauben machen möchte, ist kein erwachsener Mensch. Der ganze Spuk dient nur dem Zweck, eine grundlegende gesellschaftliche Vereinbarung zu untergraben: nämlich, dass man von Erwachsenen erwachsenes Verhalten erwarten darf – Vernunft und politische Mündigkeit.

Und beides brauchen wir, um uns politisch gegen die fortschreitende Verarmung zu wehren. Halten Sie Ihren Ärger über das Kleine, das Ihnen widerfährt, also klein. Und richten Sie Ihren Zorn auf die großen Entwicklungen, von denen Sie kleingehalten werden!

Titelbild: Playboy