Fr., 24.01.2020
Motor & Mobility

Junger Schwede! Volvos 609 PS starker Hybridsportler im Test

Sonst bekannt für seine sportlichen Kombis, gibt Volvo ab sofort auch elektrisch Gas: Mit dem 609 PS starken Hybrid-Sportwagen Polestar 1 feuern die Skandinavier den Startschuss für ihre neue E-Marke ab – und das auf 1500 Stück limitierte Geschoss macht eine richtig gute Figur, in der Stadt wie auf der Autobahn

Volvo-Fahrer sind der Regel brave Familienväter mit zwei Kindern, tragen Cordsakkos und sind von Beruf Lehrer. Sie wollen ihre Liebsten sicher unterwegs wissen, PS-Geprotze und aggressive Überholmanöver würdigen sie nur mit einem verächtlichen Blick im Sinne von „Wer’s nötig hat“. Insofern, nahm ich an, würde ein hochmotorisierter Volvo immer ein Auto aus der Welt der Mythen und Tuning-Szenen bleiben. Zugegeben, vielleicht sind meine Vorstellungen etwas klischeebelastet, aber wenn mir vor ein paar Jahren jemand gesagt hätte, dass ich mal einen 609 PS starken Volvo testen würde, der in 4,2 Sekunden auf 100 km/h beschleunigt, dann hätte ich nur mit dem Kopf geschüttelt und gesagt: „So einen Volvo wird es niemals geben.“

 

Credit: Christian Bittmann

 

In gewissem Sinne habe ich sogar Recht behalten. Denn streng genommen ist der neue Polestar 1 kein Volvo. Die Schweden wollen die Unternehmenstochter Polestar als eigene Marke zum Thema Elektromobilität etablieren. Volvo oder auch das chinesische Mutterunternehmen Geely spielen in der Kommunikation nur eine untergeordnete Rolle. Insofern verwundert es nicht, dass das erste Fahrzeug unter der neuen Flagge auf 1500 Stück limitiert ist. Die eigens entwickelte Hybridkonstruktion aus drei Elektro- und einem Verbrennungsmotor soll nicht nur 1000 Newtonmeter Drehmoment generieren, sondern vor allem Aufmerksamkeit für die neue Marke.

 

Credit: Christian Bittmann

 

 

 

 

Trotzdem lassen sich die Volvo-Gene nur schwer leugnen: Schon von außen ist das Fahrzeug mit seinen kantigen Linien und den prägnanten Volvo-Scheinwerferschlitzen klar als Schwede erkennbar. Aber ein Schwede auf Steroiden. Das zweitürige Coupé-Design, die breiten Heckschultern und die mattgraue Lackierung sollten dem PS-Boliden selbst bei Fahrern von Wagen aus Zuffenhausen oder Affalterbach ordentlich Respekt verschaffen: Polar- statt Mercedes-Stern. Im Inneren wird es dann wieder schwedischer: Zwei große Displays, ein sehr aufgeräumtes Design und klare Linien erzeugen eine puristische, funktionelle Formensprache, gepaart mit einem Hauch Luxus aus Nappaleder, Sicht-Carbon und gläsernem Schalthebel. Ebenfalls aus Glas: das riesige Panoramadach. Fast fühlt man sich wie in einem Cabrio.

 

Credit: Christian Bittmann

 

 

 

 

Startet man das Fahrzeug mithilfe des Drehknopfs in der Mittelkonsole, rechnet man instinktiv mit dem Wummern eines kräftigen V8-Zylinders. Doch es passiert: nichts. Denn im Standard-Fahrmodus „Hybrid“ wird das Auto zunächst nur von den zwei auf der Hinterachse sitzenden, nahezu geräuschlosen Elektromotoren angetrieben, die es mit insgesamt 232 PS sanft nach vorn schweben lassen. Nur wer das Gaspedal etwas stärker durchdrückt oder auf deutlich höhere Geschwindigkeiten beschleunigt, kann hören, wie der eigens dafür installierte 68-PS-Starter-Generator die vier Zylinder des Verbrennungsmotors auf Touren bringt.

 

Credit: Christian Bittmann

 

 

 

 

Doch bei unserer Fahrt durch die hektische Innenstadt von Florenz brauchen wir das nicht. Wir schalten das Fahrzeug auf die Einstellung „Pure“, also den reinen Elektrobetrieb. Bis zu 124 Kilometer (im WLTP-Messverfahren) soll der Wagen laut Herstellerangabe in diesem Modus schaffen, also deutlich mehr als die meisten sonstigen Plug-in-Hybride (deren rein elektrische Reichweite im Schnitt bei 50 Kilometern liegt). Mehr als genug, um beim täglichen Pendeln durch die Stadt im rein elektrischen Modus zurechtzukommen.

 

Credit: Christian Bittmann

 

 

 

 

Auf den Landstraßen rund um Florenz schalte ich dann auf „All Wheel Drive“. Denn jenseits der 100-km/h-Grenze wird das Ansprechverhalten des Gaspedals im reinen Elektro-Modus einfach zu schwach – man braucht hier den zusätzlichen Schub, der durch den 2-Liter-Vierzylinder auf der Vorderachse generiert wird. Noch einen Tick sportlicher wird es, wenn man in den Modus „Power“ schaltet. Dadurch steht dem Fahrer die volle Systemleistung aller Motoren von insgesamt 609 PS zur Verfügung, und der Polestar 1 beschleunigt trotz seines etwas behäbigen Gewichts von 2,3 Tonnen in 4,2 Sekunden auf 100 km/h – bis zu einer Höchstgeschwindigkeit von 250 km/h. Zugegeben, das sind jetzt keine Werte eines Porsche Taycan (2,8 Sekunden), aber ein normaler 911er-Carrera schafft diesen Standardsprint auch nicht schneller.

 

Credit: Christian Bittmann

 

 

 

 

Dank des tiefen Schwerpunkts und der nahezu idealen Gewichtsverteilung, die der Hybrid durch den Carbon-Leichtbau und die geschickte Positionierung der Akkus erreicht, liegt der Wagen selbst bei schnellen Richtungswechseln gut auf der Straße. Das liegt auch daran, dass beide Elektromotoren – und damit auch die jeweiligen Hinterräder – voneinander unabhängig angesteuert werden können und entsprechend der Fahr- und Kurvensituation (Torque Vectoring) unterschiedlich schnell beschleunigen. Schaltet man außerdem die Rekuperation (also die Bremsenergierückgewinnung) auf die höchste Stufe, lässt sich der Stromer allein über das Gaspedal beschleunigen und abbremsen. Die mechanischen Scheibenbremsen werden, mal abgesehen von Extremsituationen, selten gebraucht.

 

Credit: Christian Bittmann

 

 

 

 

Das macht den Polestar nicht zum reinrassigen Sportwagen, sondern eher zum soliden Gran Turismo. Einen Gran Turismo allerdings mit nur wenig Platz für Gepäck: Insgesamt 115 Liter lassen sich hinten unterbringen. Dafür ist der Kofferraum jedoch ein echter Hingucker: Eine Plexiglasabdeckung an der hinteren Wand bietet einen direkten Durchblick auf die Elektrotechnik und die orangefarbenen Hochvoltkabel und -anschlüsse des Fahrzeugs.

 

Credit: Christian Bittmann

 

 

 

 

Alles in allem macht die Kombination aus ausreichender elektrischer Reichweite im Stadtbetrieb sowie ordentlichem Schub auf Landstraße und Autobahn den Polestar 1 zum perfekten Hybridfahrzeug für jede Gelegenheit. Einzig der hohe Preis von 155.000 Euro dürfte viele Käufer abschrecken. Allerdings beinhaltet diese Summe bereits die komplette Vollausstattung. Bis auf den matten Lack (5000 Euro Aufpreis) gibt es keine anderen buchbaren Extras. Wem das trotzdem zu teuer ist, der sollte auf den Polestar 2 warten, der dann im Sommer 2020 als Konkurrent zu Teslas Model 3 auf die Straße kommt – zu einem Preis von unter 50.000 Euro. Das schöne Blubbern eines Verbrennungsmotors gibt es bei diesem Modell aber dann leider nicht mehr.

 

 

 

Unser Autor testete den Wagen auf Einladung des Herstellers.

 

Polestar 1

 

Geschwindigkeit
250 km/h 

 

Systemleistung
609 PS

 

Drehmoment
1000 NM

 

0–100 km/h
4,2 Sekunden

 

Elektrische Reichweite
124 km 

 

Gewicht
2350 kg

 

Preis
155.000 Euro

 

 

 

 

Titelbild: Christian Bittmann