Illustration zur Streitschrift über Freundschaft
Mo., 27.07.2020
Kommentar

Nur die Liebe zählt? Nein, die Freundschaft!

Zweisamkeit, Ehe, Familie – all das ist sicherlich wichtig. Doch der wahre Kern des Zusammenhalts ist ein anderer, sagt unser Autor.

Er ist nackt. Ich bin nackt. Die Fransen umspielen unsere Körper. Und ich rufe: „Möge das Gelage beginnen!“ Und er ruft: „Man reiche mir die Träubchen.“ Wochenend-Trip mit bestem Freund nach Amsterdam – eingehüllt in den Hotelvorhang oder besser: die Toga, spielen wir altes Rom und formatieren alle Sorgen auf der Gehirn-Festplatte.

Und dann kommst du beseelt und glücklich von einer herausragenden Freundschaft in den Alltag zurück und merkst, dass da eventuell mal etwas geradegerückt werden muss. Denn auf der gesellschaftlichen Prioritätenliste ganz oben steht ja gar nicht Freundschaft, sondern Liebe. Viel zu viele Menschen suchen immer und immer wieder fast schon krampfhaft nach dem Partner oder der Partnerin fürs Leben. Menschen, die ansonsten ganz vernünftig Alltag und Job meistern, einkaufen gehen, Sport machen, ab und an in Urlaub fahren und vielleicht sogar gesund leben. Sie werden zu irrationalen Wesen, wenn es darum geht, einen sicheren romantischen Hafen anlaufen zu wollen, nein, zu müssen. Sie geraten unter Druck, nerven ihr Umfeld, nerven sich selbst, geben viel Geld für Dating-Apps aus und sind ganztägig unglücklich, weil eben meistens doch nicht alles so klappt, wie es die Werbung („Alle elf Minuten ...“) ihnen versprochen hat.

„Es ist manchmal gar nicht die Beziehung, die glücklich macht, sondern das Gefühl, eine zu haben“

Und die anderen, die Paare, die Menschen in Beziehung? Sie beobachten dieses Drama, versprühen ein wenig Mitleid – „Ach, das wird schon, wirst sehen, unverhofft kommt oft“ – und fühlen sich ein kleines bisschen gut, denn sie haben es hinter sich. Oft verwechseln sie aber gut fühlen nur mit erleichtert sein. Erleichtert, dass sie nicht mehr auf hoher See fahren müssen, sondern sich im sicheren Hafen noch schnell eine Netflix-Folge reinziehen können, bevor es schnell ins Bett geht. Kinder stehen früh auf. Job wartet. Schlaf statt Beischlaf. Es ist manchmal gar nicht die Beziehung, die sie glücklich macht, sondern das Gefühl, eine zu haben. Sie müssen nicht mehr raus. Denn die Liebe ist ja schon da. Oder war da. Am Anfang. Und dann ertappen sie sich bei der unbequemen Frage, wo sie eigentlich hin sind, die beiden Ex-Mitbewohner Liebe und Leidenschaft? Und dann fühlen sie sich traurig. Bräsig. Alt.

Aber alles, alles besser als Single sein! Denn Paarsein ist der Standard, den es zu erreichen gilt. Das Endziel, die vollkommene Menschwerdung. Und so laufen weite Teile unserer Gesellschaft, Singles wie Paare, mit dieser Monstranz der ewigen Liebe durch die Welt und beten sie gottgleich an. Auf dem Altar des Paar-sein-Müssens werden bisweilen Würde, Geld und Integrität geopfert. Religiöse Sprachbilder sind hier kein Zufall, denn es war ja vor allem die Kirche, die das heilige Bild von Vater-Mutter-Kind in die Welt gesetzt hat, freundlich unterstützt von der bürgerlich-staatlichen Vision der Kernfamilie. „Statt in politische Überzeugungen und halb öffentliche Freundschaftsbande sollten die Energien in die private Liebesbeziehung und Familie investiert werden“, so der Philosoph Daniel Tyradellis.

„Die ewige Liebe ist, statistisch gesehen, extrem unwahrscheinlich“

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich liebe die Liebe. Und lebe sie. Mit voller Inbrunst. Und ich mag Familien. Ich habe selbst eine. Und mir ist natürlich auch klar, dass der biochemische Prozess des Verliebtseins, die berühmten Schmetterlinge im Bauch, das ganze Dopamin, ganz maßgeblich dazu führt, dass unsere Spezies nicht ausstirbt, sondern sich fortpflanzt und also nicht ganz unwichtig ist fürs Menschsein.

Doch wir alle wissen: Die ewige Liebe ist, statistisch gesehen, extrem unwahrscheinlich. Die Scheidungsrate ist ungebrochen hoch. Der Single-Markt wächst. Liebe kann aufregend sein und inspirierend und irre, aber sie ist eben nicht besonders nachhaltig.

Das gilt besonders in dieser bewegten Zeit. Einer Zeit, in der vielen vieles zu viel zu werden scheint, in der eine großen Mehrheit in Umfragen angibt, gestresst zu sein. Eine Zeit von Nazi-Terror und Virus-Pandemie, von Wohnungsnot und Insta-Story, von Arbeitszeitverdichtung und Kinderbetreuungsnotstand.

Und es ist eben nicht die Liebe in ihrer starren Form, die uns helfen wird, zurechtzukommen mit dieser dynamischen Entwicklung, sondern eine andere, eine dynamische Beziehungsform: die Freundschaft. Wie keine andere bietet sie enorme Stabilität bei einem gleichzeitig hohen Maß an Flexibilität und Freiheit. Sie unterliegt keinen (geschriebenen) Regeln und bietet dennoch großen emotionalen und auch praktischen Halt.

Es gibt nichts Entspannenderes als Freundinnen und Freunde. Da können die romantischen Netflix-Couchings, die Achtsamkeitskurse oder das Yoga-Training so was von einpacken: Ein Abend mit Freunden ist zwei Wochen Urlaub fürs Gehirn. Dafür muss man nicht mal nach Amsterdam reisen und sich nackt in einen Hotelvorhang einrollen – nein, es reicht im Zweifel ein Billo-ballo-Abend mit Freunden beim Italiener oder ein paar Stunden Kneipe, und alles ist wieder gut. Oder zumindest viel besser. Job, Beziehung, Nichtbeziehung, Familie, Weltschmerz. Vielleicht weil wir unter Freunden gewissermaßen auch nackt sein dürfen. Weil wir ganz viel reden können. Oder schweigen. Weil’s keine Regeln gibt. Weil wir frei sind.

Während wir ins Bodenlose fallen, wenn der Bindfaden der heilig gehaltenen Liebesbeziehung erst gerissen ist, bewahrt uns das gut gepflegte Freundschaftsnetz vor dem Absturz, selbst wenn sich mal einer der Knoten löst. Um den Halt stiftenden Charakter der Familie hingegen ist es schon lange nicht mehr so gut bestellt: Oma und Enkel unter einem Dach, das gibt es so gut wie gar nicht mehr. Stattdessen gibt es viele neue Unsicherheiten: Wer übernimmt die Pflege, wenn ich mal alt bin? Meine Kinder? Und wenn nicht sie, dann der Staat? Der ächzt schon jetzt unter der Masse der Pflegebedürftigen. Kein Wunder, dass renommierte Soziologen wie Heinz Bude bereits die Freundschaft als „dritte Säule der Fürsorge“ – neben Staat und Familie – bezeichnen.

Auch aus Gemeinwohl-Gründen ist es also mehr als angebracht, über neue soziale Bande nachzudenken. Freundschaft in all ihren Ausprägungen wird zu einer zunehmend bestimmenden Größe beim Erhalt unseres Zusammenlebens, ja unserer Demokratie. Wir sollten sie deswegen nach oben auf die gesellschaftliche Prioritätenliste setzen. Nicht nur in unseren Köpfen, auch staatlicherseits: Gemeinschaftliches Bauen, Wohnen, Leben gehören intensiv(er) gefördert. Solidarische Netzwerke rechtlich umfangreicher anerkannt. Wer sich auf die Suche nach dem Kitt der Gesellschaft begibt, der kommt jedenfalls an der Freundschaft nicht vorbei.

Übrigens: Die Liebe von ihrem gesellschaftlichen Thron zu stoßen bedeutet nicht, sie zu verbannen. Freundschaft und Liebe können sich ja sogar befruchten. Vielleicht ist die Liebe auch nur eine Spezialform der Freundschaft. So oder so: Die universale gesellschaftliche Wirkkraft der Freundschaft kann die Liebe nicht erlangen. Also findet sie zwar einen Platz auf der Prioritätenliste, nur eben nicht mehr ganz oben.

Denn da gehört die Freundschaft hin.

Titelbild: Michael Pleesz