Autor: Lucas Vogelsang
Neulich traf ich Thomas Helmer im Museum. In Dortmund, der deutsche Fußball hinter Glas. Dort saßen wir an einem breiten Tisch, über uns spielten die Bayern, und um uns herum stand die Geschichte im Raum, hing das Vergangene gut ausgeleuchtet an den Wänden, war wieder einmal alles greifbar. Der WM-Pokal, der ausschließlich von ehemaligen Weltmeistern bewegt werden darf. Weswegen sie dort in Dortmund immer gleich bei Kevin Großkreutz anrufen müssen, wenn sie mal eben unter dem Sockel wischen wollen. Der DFB-Pokal auch. Vor einer schwarz-gelben Fototapete, das Olympiastadion im vollen Ornat. Und natürlich das wirklich goldene Tor. Wembley, 1996. Oliver Bierhoff im Strafraum, der Abschluss mit links. Petr Kouba nur mit den Fingerspitzen. Der Ball irgendwie hinter der Linie. Es braucht nicht viel, um gleich wieder dabei zu sein. An Ort und Stelle, in der fünften Minute der Verlängerung. Eine Drehung nur. Und die Stimme Béla Réthys, seine in der plötzlichen Gewissheit verzerrten Sätze.
„Bierhoff“, brüllt Réthy damals, „kann sich durchsetzen!“ Dann entgleisen ihm die Silben. „Kouba! – Und! – Deutschland ist Europameister!“ Während sich Bierhoff im Jubelsprint sein Trikot vom Körper reißt, ehe er von Christian Ziege und Thomas Häßler eingeholt wird. Der deutsche Taumel ein Wimmelbild nun. Klinsmann und Kuntz. Körper, die auf Körper fallen. Und weiter vorn, auf dem Rasen vor der deutschen Bank, auch Thomas Helmer, der einfach hineinspringt in die Traube der anderen, um sich dort an den zum Himmel gereckten Arm seines Torwarts zu klammern. Andy Köpke im hellblauen Jersey.
Auch das war ein Sommermärchen. 25 Jahre her mittlerweile. Ein Vierteljahrhundert. Doch wenn ich mir die Bilder aus London heute wieder anschaue, trifft es mich. Dann spüre ich diese Nacht gleich wieder körperlich. Dann sitze ich auf der braunen Couch meiner Eltern, im Rücken die VHS-Kassetten meines Vaters. „Forrest Gump“, „Stille Tage in Clichy“, „Rain Man“. Dann trage ich wieder das Trikot mit dem Adler auf der Brust. Und halte die Spannung kaum aus, weil ich noch nicht weiß, wie es sich anfühlt, einen Titel zu holen. Die Weltmeisterschaft 1990, Andy Brehme gegen den Elfmetertöter Goycochea, der Kaiser dann allein auf dem Rasen von Rom, hatte ich noch verpasst.
Sechs Jahre später aber war ich alt genug, um zu begreifen, worum es hier ging. Da waren mir auch die Namen vertraut, weil ich mir die Bundesliga am Fernseher erschlossen hatte. Dort, Opel auf der Brust, spielten Klinsmann und Helmer. Und einer, der tatsächlich Ziege hieß. Und den Häßler, das wusste ich auch, nannten sie Icke. Weil er aus Berlin kam. Wie, nun ja, icke.
Dann saß ich zu Hause und klebte Abziehbildchen aus Haselnussschnitten, fiebrige Finger. Klebte den Ziege, klebte Reuter und Freund. Und lernte diese Mannschaft nach und nach kennen, plötzlich Wegbegleiter auch. So wurden es besondere Wochen. Weil etwas in der Luft lag. Und weil die Spiele anders waren als die Spiele zuvor. Größer, wichtiger. Staatsangelegenheiten. Der Fußball dieser Tage, er war jetzt nicht mehr nur bei uns zu Hause, er war nun auch bei den Nachbarn zu Gast. Gleichzeitig in allen anderen Wohnzimmern. Wie gesagt, das kannte ich nicht. Meine Freunde und ich, wir saßen nun gemeinsam vor dem Fernseher, wir teilten diesen Moment. Und nach jedem Spiel liefen wir in den Hof gegenüber, stellten die besten Szenen dort nach. Klinsmann gegen Russland. Doppelpack, dieses wirklich großartige Wort. Dann Köpke gegen Zola, das vielleicht schönste 0 : 0 meiner Kindheit. Wir trugen die Tore noch in uns. Und schossen mit Dosen auf Tischtennisplatten. Wurden Ziege, Häßler und Kuntz. Nur einmal war ich trotz allem Kroate. Davor Suker, mit der Sohle über dem Ball, als hätte er ihn gestreichelt.
Eine Schwärmerei, die ich mir leisten konnte, weil danach auch Sammer getroffen hatte. Der eigentliche Dirigent dieses Sommers. Ein Hirn, das in der Mitte des Spiels zu leuchten schien. Der Schopf als Schöpfer. Sammer brannte für den Erfolg. Weshalb sie ihn Feuerkopf nannten, hochachtungsvoll.
Später wurde er zu Europas Fußballer des Jahres gewählt, als erster Spieler aus der ehemaligen DDR. Einem Land, von dem ich damals allerdings noch nicht genug wusste, um zu verstehen, wie wichtig das war. Für Sammer. Und für das tatsächlich neue Deutschland, das er verkörpern sollte.
Mein Held aber blieb Andy Möller. Weil er in Wembley, Halbfinale gegen den Gastgeber, den Gascoigne gemacht hatte. Der ziemlich trockene Moment einer sonst sehr feuchten Figur. Andy Möller, die Brust raus vor den englischen Fans, das konnte man so stehen lassen. Er hatte alles Weitere erst möglich gemacht. Das Finale, das goldene Tor. Jürgen Klinsmann mit dem Pokal in den Händen, in seinem Rücken die Queen, lächelnd im türkisfarbenen Kostüm. 25 Jahre vergangen seitdem.
Die Szenen von damals, sie sind bei uns geblieben, während sich mit den Namen und Zeiten auch die Gefühle verändert haben. Weil der Fußball und auch der Blick darauf heute ein anderer ist, das ganze Geschäft vor allem Geschäft. Mit Gewinnern, die ihre Unschuld verloren, und Kampagnen, die uns die Illusionen geraubt haben. So stehen wir vor einem Turnier, das verschoben werden musste, während andere wahrscheinlich längst verschoben worden sind. Der Jubel vor halb leeren Rängen. So versuchen wir, mit einer Nationalelf zu fühlen, der ein bisschen Sammer guttun würde, weil ihr viel zu oft beides fehlt. Feuer und Kopf.
Und weil sie sich hinter Slogans verschanzen kann, die meist von jenen erdacht wurden, die es eigentlich besser wissen müssen. Weil sie die Strafräume kennen. Oliver Bierhoff, auch hier wieder goldenes Beispiel, ist längst nicht mehr Stürmer, dafür aber Manager der Nationalmannschaft. Ein Hashtag-Minister, der am liebsten auch den Zufall domestizieren würde. Vor einigen Jahren hat er sein Endspiel-Dress in Dortmund abgegeben. Die weißen Stutzen, die schwarze Hose. Und natürlich sein Trikot, die Nummer 20 auf dem Rücken. Bierhoff trug wie immer Anzug und Krawatte. Und ein Lächeln, dem Anlass entsprechend. Das Trikot aber, es passte nicht mehr zu ihm.
Thomas Helmer, in England damals Ausputzer im besten Sinne, hat die vergangenen Jahre als Moderator gearbeitet. Für einen Sender, der früher mal DSF hieß. Dort durfte er immer sonntags mit anderen schweren Männern des deutschen Fußballs den Spieltag mit alkoholfreiem Clausthaler nachspülen. Neben ihm saßen dann Effenberg oder Reif, Basler und Doll. Profis unter Palmen.
Jetzt im Sommer allerdings muss Helmer aufhören. Und es ist nicht ganz klar, was bleiben wird von dieser Karriere. Der Titel im Londoner Wembley-Stadion. Oder die Runden im Münchner Airporthotel. Im Museum allerdings, dort in den Kulissen der Geschichte, war er gleich wieder einer von damals. Sein im Grunde eigenes Exponat. Ein Europameister, ein Held meiner Kindheit. Und damit auch eine sehr lebendige Erinnerung an diesen Sommer, den wir gemeinsam verbracht haben. Er auf dem Platz. Und ich auf der Couch. Für immer goldene Zeiten.