Bill Murray: Der wortkarge Exzentriker
Auf dem Zenit seines Erfolges verschwand Bill Murray nach Paris und markierte dort den unbekannten Mann. Er besuchte Vorlesungen für Philosophie und Geschichte an der Sorbonne, rauchte handgerollte Gitanes, und während sein Agent ihn händeringend zu erreichen versuchte, guckte er Buster-Keaton-Filme in der Cinémathèque. Es waren die 80er-Jahre, und „Ghostbusters“ hatte ihn, einen durchaus erfolgreichen Comedian, an die Spitze von Hollywoods A-List katapultiert. Doch statt Reibach mit dem neuen Ruhm zu machen, schaltete Murray sein Telefon auf stumm und klinkte sich für vier Jahre aus. Derart von der Bildfläche verschwunden war er, dass nicht einmal bekannt ist, wo er sich die ganze Zeit herumtrieb. Außer den sechs Monaten in Paris. Es war die Geburtsstunde von Bill Murray, dem Exzentriker.
Liebeserklärung an einen Exzentriker: Bill Murray wird 75
Sein biologischer Geburtstag ist am 21. September. 75 wird er dieses Jahr. Erst, möchte man fast sagen, denn sein tröstliches Knautschgesicht war doch irgendwie präsent in jeder Lebensphase. „Ghostbusters“ liebt die Familie ab sechs Jahren, mittelalte weiße Männer spiegeln sich in der Einsamkeit des desillusionierten Schauspielers aus Sofia Coppolas „Lost in Translation“ und im abgehalfterten Don Juan aus Jim Jarmuschs „Broken Flowers“, und die Generationen X–Z verehren seine wortkarge Weisheit. Indie-Hipster-Ikone Wes Anderson besetzte ihn in elf seiner zwölf Filme, in seinem letzten gar als Gott. „Nicht weil ich es so wollte, sondern weil Gott es so wollte“, sagte Anderson bei der Vorstellung des Films in Berlin – nur halb im Spaß.
Murrays Gesicht ist alles andere als die berühmte nackte Leinwand, auf die Regisseure projizieren können, was sie wollen. Alles hängt, die Lider, die Wangen, selbst das seit Jahrzehnten hartnäckig am Follikel klammernde Büschel über der Stirn. Und trotzdem lässt sich in dieses Gesicht alles zwischen Schalk und Abschätzung hineinlesen. Hinter dem trägen Gleichmut liegt eine Anspannung, die sich in einer Sekunde in einen Witz oder einen Weinkrampf lösen könnte.
Geboren wurde Murray in eine irisch-katholische Familie als viertes von neun Kindern in Evanston, einem Vorort von Chicago. Als Mittelkind musste er lernen, wie man sich Aufmerksamkeit verdient. Das Geld war knapp. Der Vater verkaufte Bauholz, die Mutter verdiente als Sekretärin dazu, und als Bills jüngere Schwester an Polio erkrankte, rückte der Rest der Bande völlig aus dem Fokus seiner Eltern. Bills vorzüglichste Aufgabe bestand darin, den Vater zum Lachen zu bringen. „Kein betrunkenes Publikum war je so schwierig wie unser Familientisch“, sagte er mal. Von seiner lebhaftesten Kindheitserinnerung erzählte er gerade wieder in Joe Rogans Podcast: wie Little Bill auf dem Esszimmerstuhl stand und James Cagney imitierte, wie er dabei buchstäblich vor Lachen vom Stuhl fiel und sich den Kopf heftig am Tischbein stieß. Wie er durch den Schmerz und die Tränen den Vater lachen hörte, lachen wie noch nie, und wie sehr die Pein ihm das wert war. Vielleicht manifestierte sich in diesem Moment Murrays Markenzeichen. Komisch und gequält zugleich zu wirken, die Absurdität der eigenen Existenz nur mit Humor zu ertragen.
“Dass er überhaupt beim Film landen würde, war eine Mischung aus Schicksal und Drogenkonsum
Drei von Bills Brüdern gingen ins Showbusiness als Drehbuchschreiber und Stand-up-Comedians, und selbst die ältere Schwester, die Nonne wurde, genannt „das weiße Schaf“ der Familie, tourte mit einer One-Woman-Show über eine Heilige aus dem 14. Jahrhundert durch die Welt. Auch wenn Murray über seine Kindheit sagt, sie habe eher „einer Herde“ geglichen, „die zusammengehalten wurde, als einem Familienleben“, konnten sich seine Talente entfalten. Nebenher verdingte sich Bill von klein auf als Caddy auf dem örtlichen Golfplatz – eine seiner Erinnerung nach demütigende Aufgabe, aber sie führte im Erwachsenenalter immerhin zu einem Handicap von sieben. Und noch viel später zur Gründung seines Golfmodenlabels William Murray. Und sie inspirierte seinen älteren Bruder Brian zum Drehbuch von „Wahnsinn ohne Handicap“ mit Bill als derangiertem Rasenwächter. Das war eine seiner ersten Filmrollen.
Dass er überhaupt beim Film landen würde, war eine Mischung aus Schicksal und Drogenkonsum. Zumindest wirkt es in der Rückschau so. Denn obwohl er am Highschool-Theater viel Spaß hatte, schrieb er sich am College für Medizin ein. Bis er an seinem 20. Geburtstag am Flughafen von Chicago mit zehn Pfund Cannabis erwischt wurde. Alles nur, weil er gegenüber einem Mitreisenden scherzte, in seinem Gepäck befänden sich zwei Bomben, woraufhin er von US-Marshals gefilzt wurde. Sie fanden Gras im Wert von 20.000 Dollar – viel zu viel, um als Dummer-Jungen-Streich durchzugehen. Als Ersttäter kam er mit fünf Jahren auf Bewährung davon, seine College-Karriere war dennoch vorbei. Einen Plan B hatte er nicht. „Aber ich wusste, dass ich Comedy machen wollte.“
Bill Murray wird 75: Auf den Spuren seines Freundes John Belushi
Er zog nach Chicago und feilte an seiner Begabung in der legendären „Second City“-Theater-truppe. Hier fand er seinen Stil: die stoische Ausdrucksstärke, den trockenen Witz und die Kunst, das Absurde aus dem Alltäglichen herauszukitzeln. Unter seinen Weggefährten dort waren John Belushi und Dan Aykroyd. Wenn man Murray fragt, wie er sich seinen Erfolg erklärt, sagt er: John Belushi. „‚Second City‘ war eine großartige Ausbildung. Die nächste Station danach für Comedians konnte nur ‚Saturday Night Life‘ sein. John Belushi war der Erste von uns, der es nach New York schaffte, und er hat uns allen den Weg geebnet. Sehr viele Leute haben auf John Belushis Couch geschlafen. Ich war einer davon.“ Es grämt Murray, dass die jüngere Generation seinen guten Freund und Förderer nur als den kennt, der an einer Überdosis starb. Ungerecht, denn Murray zufolge war Belushi schon nach vier Bieren blau. „Auf der Bühne war er absolut magnetisch, man konnte seine Augen nicht von ihm abwenden.“
Murray selbst war allerdings auch nicht ganz unbegabt, sonst hätte Hollywoods mächtigster Agent Michael Ovitz das SNL-Talent nicht in seine Kartei aufgenommen. Wahrscheinlich kein Zufall, dass Murrays größte Kasssenhits („Ghostbusters“, „Und täglich grüßt das Murmeltier“) in der Zeit entstanden, in der Ovitz seine Vermarktung übernahm. Wie sehr Ovitz den Kauz in Murray unter Kontrolle hatte, zeigte sich erst 1995, als der Agent Präsident von Disney wurde und sein Klient sich mit seinen Nachfolgern arrangieren musste. Murray konnte nicht ausstehen, wie sie das Telefon „75-mal klingeln ließen“. Seitdem beschäftigt er nur noch einen Anwalt und einen Anrufbeantworter. Murrays Marotten sind fast so berühmt wie seine Filme. Wer mit ihm in den letzten 30 Jahren arbeiten wollte, musste eine kostenlose Nummer wählen und sein Ansinnen dem Anrufbeantworter vortragen. Rückruf ungewiss. Bis vor Kurzem verweigerte Murray jegliche modernen Kommunikationsmittel. Dass er neuerdings textet, ist seinen sechs Söhnen geschuldet. „Die schreiben lieber, als zu telefonieren“, sagt er.
Was Murrays Privatleben angeht, so scheint seine zweite Ehe schlechter auseinandergegangen zu sein als die erste. Über seine sechs Söhne spricht er liebevoll, es hilft, dass keiner im Entertainment-Business ist. Die beiden ältesten brachten es auch ohne Familienverbindungen zu einem gewissen Bekanntheitsgrad. Homer, der zweitälteste, ist Celebrity-Koch mit eigenem Restaurant in Brooklyn, und Luke, der älteste, ein ziemlich erfolgreicher Baseball-Trainer, sehr zur Freude seines Baseball-fanatischen Vaters. „Ich will wirklich nur arbeiten, wenn ich arbeiten will“, erklärte Murray dem Branchenmagazin „Variety“. „Das Leben kommt dazwischen. Ich liebe, was ich tue, und ich weiß, dass ich dazu bestimmt bin, es zu tun, aber ich kann es nicht tun, wenn ich mein Leben nicht lebe.“ Und Murray versteht besser als die meisten zu leben. Wenn ihn Wes Anderson wieder mal für einen Film anfragt, kann er nie sicher sein, wo sich der Patenonkel seiner Kinder gerade herumtreibt. „Bill ist ein international traveller.“
Es kann sein, dass er an einem Tag sein Lieblingsteam, die Chicago Clubs, in Tokio anfeuert und am übernächsten Tag in Pebble Beach/Kalifornien Golf spielt. Er wurde zusammen mit seinen fünf Brüdern in die Caddie Hall of Fame aufgenommen und ist Co-Besitzer mehrerer Minor-Baseball-Teams. Man hat ihn schon dabei beobachtet, wie er vor Straßenarbeitern Gedichte rezitierte, und er tourte viele Jahre mit seiner Band Blood Brothers durch die Lande.
Bill Murray wird 75: Der Unerreichbare
Das Absurde an Murrays Unerreichbarkeit ist, dass er wie das Gegenteil eines Eremiten lebt: Er versteckt sich in der Öffentlichkeit. Während die junge Sofia Coppola und Wes Anderson früher monatelang Bettelgesuche schickten, bevor sie ihn zu fassen kriegten, steuerte Murray betrunken einen Golfwagen durch Stockholm oder crashte eine Junggesellenparty in San Francisco. Berichte von Zufallsbegegnungen mit ihm füllen Websites und Bücher. Wie er eine Party crashte und den Abwasch übernahm. Wie er sich von hinten in der Toilette eines Restaurants an jemanden ranschlich, die Augen zuhielt und flüsterte: „Das wird dir kein Mensch glauben.“ Wie er in weißem Anzug und Hut mitten in der Nacht in Manhattan nach dem Weg zu einer Bar fragte. Ob alle Begegnungen wahr sind, die auf billmurraystory.com erzählt werden? Fast egal. Es könnte ja sein.
Es gibt drei Regisseure, denen Murray zusagt, bevor er weiß, was im Drehbuch steht: Sofia Coppola, Jim Jarmusch und Wes Anderson. „Man muss sich das schon erarbeiten mit ihm“, sagte Sofia Coppola neulich in einem Interview. „Da fordert er einen auch heraus. Hat Jahre gedauert.“ Mit dem Erarbeiten meinte sie nicht nur die Nachrichten, die sie im Jahr 2000 monatelang auf Murrays berüchtigtem Anrufbeantworter hinterlassen musste. Es waren „ihre klare Vision, ihr Humor und ihre Hartnäckigkeit“, die Bill Murray weichklopften. Jim Jarmusch kommt seiner rebellischen Apathie entgegen. Wes Anderson ist so verkauzt wie er, nur auf eine andere Art. Sie alle haben ihn begriffen.
“Wer ihn sein lässt, bekommt den Besten aller Murrays
So einfach ist das: Wer ihn sein lässt, bekommt den Besten aller Murrays. Wer sich mit ihm anlegt, lernt den „Murricane“ fürchten. So wie sein langjähriger Kollege Harold Ramis. Murray und Ramis schrieben in den Achtzigern Comedy-Geschichte zusammen. „Wahnsinn ohne Handicap“, „Ich glaub’, mich knutscht ein Elch“, „Ghostbusters“. Ramis war der Besonnene und Murray das anarchische Improvisationsgenie. Doch ausgerechnet „Und täglich grüßt das Murmeltier“, Murrays vielleicht ikonischste Rolle, brachte die beiden für immer aus dem Rhythmus. Regisseur Ramis schwebte eine warme, beschwingte Komödie vor, an deren Ende Erleuchtung wartet.
Murray wollte den Wettermann, der jeden Morgen am selben Tag aufwacht, zynischer und dunkler, die Komödie als philosophische Exkursion in die Abgründe des Menschseins. So widerborstig wurde Murray, dass das Studio ihn aufforderte, eine Assistentin zur besseren Kommunikation zu engagieren. Worauf er eine taubstumme Indianerin präsentierte, die sich ausschließlich in ihrer nativen Gebärdensprache verständigen konnte. Das ist komisch. Und böse. Genauso wie der Film. Auf eine merkwürdige Art profitierte „Und täglich grüßt das Murmeltier“ von den Spannungen am Set. Doch gesprochen haben die beiden Freunde erst mehr als 20 Jahre später wieder miteinander, als Ramis im Sterben lag.
Bill Murray wird 75: Raudi mit Neigung zum Schabernack
Überhaupt geht Murray nie einer Kontroverse aus dem Weg. Sagt, was er denkt, ohne sich dem Zeitgeist zuliebe zu verdrehen. 2022 geriet er in die Bredouille, als er am Set von „Being Mortal“ mit Seth Rogan seine üblichen Späße machte. Alle trugen Covid-Masken, und Murray küsste eine Produktionsassistentin durch seine und ihre Covid-Maske auf den Mund. Er fand’s zum Piepen, sie nicht. Die Dreharbeiten wurden abgebrochen. Monate später zeigte er sich in einem Interview mit der „New York Times“ bekümmert über den Vorfall. „Ich weiß nicht, was mich geritten hat. Wir kannten uns. Ich hatte denselben Gag schon vorher mit jemand anderem gemacht. Ich fand’s lustig, es war jedes Mal lustig.“ Ja, gab er sich reuevoll, auch ein alter Hund kann noch neue Tricks lernen. Aber es ist schwer, mit seiner Disposition zum Schabernack.
„Bill sagt es oft, und ich wiederhole es gerne: Wir müssen uns daran erinnern, dass das Leben kurz ist und man so viel Spaß wie möglich haben sollte“, sagte der Cellist und Dresdner Festspiel-Intendant Jan Vogler gerade der Wiener „Kronen Zeitung“. Der Musiker und Murray sind Freunde, seit sie sich 2014 am Flughafen Tegel zufällig kennenlernten. Aus der gemeinsamen Liebe zu Musik und Literatur entstand das Projekt „New Worlds“. Murray rezitiert ernste Gedichte und bricht in spontane Liedchen aus, Vogler und Friends begleiten ihn dazu. Das Quartett tourt durch die schönsten Konzertsäle der Welt, Sydney Opera, Carnegie Hall, Elbphilharmonie, alle ausverkauft. Es hat etwas Herzzerreißendes, wenn Murray pathetisch ein Walter-Whitman-Gedicht vor-trägt und dann unvermittelt „I feel pretty, oh so pretty“ aus „West Side Story“ trällert. Und das Publikum tobt. Wie leicht er da wirkt. In seinem Element.