Di., 21.05.2019
Reportagen

Selbstversuch: 24 Stunden im "Berghain", dem wildesten Club der Welt

Seit fünfzehn Jahren ranken sich um das Berliner "Berghain" Legenden von Exzess und Ekstase. Aber was ist Mythos, was Wahrheit, und wo beginnt der Wahnsinn? Wir entsandten unseren Feier-Spion, der genau das herausfinden sollte.

Es gibt Clubs, es gibt berühmte Clubs, und es gibt das "Berghain". Kein anderer Techno-Laden schaffte es so oft auf die Seiten internationaler Feuilletons, keiner wurde so ein literarischer Ort voller Darkroom- und Drogengeschichten: Das alte Berliner Elektrizitätswerk ist Projektionsfläche für die Fantasien von Pop-Autoren wie Partygängern rund um den Globus.

Dieses Jahr (2014, Anm. d. Red.) hat der Sündenpfuhl Jubiläum. Ein guter Anlass herauszufinden, was wirklich dort passiert. Unser Autor unterzog sich der Feierprobe und startete um...

00.44 Uhr, Sonntag

Das Viehgatter vor dem Eingang muss noch keine Massen bändigen. Ich bin zu früh dran. Aber das ist egal. Mir ist sowieso alles egal. Jedenfalls bemühe ich mich, diesen Eindruck zu vermitteln, um durch die härteste Tür der Republik zu kommen. Auf Anraten erprobter Veteranen habe ich mich unschön gemacht. Altkleiderkiste. Methadon-Chic. Zerstrubbelte Haare, alte Hose, zerrissenes Shirt, zerknüllte 10-Euro-Scheine in den Taschen. Keine Uhr. Null Schmuck.

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Keine Uhr, kein Schmuck, kein Handy, um in den Club zu kommen.

Dafür habe ich mich schöngetrunken und schlurfe über den Schotter. Im Zombie-Tempo, angepasst an die anderen Gestalten. Wie zufällig nachts ins Friedrichshainer Brachland zwischen Gewerbegebiet und Technostrich geraten.

In Sichtweite der Türsteher frage ich einen abgemagerten Druffie, wann es voll wird. Der Kerl nimmt nicht mal die Sonnenbrille ab und keucht: "Neu, wa?" Dann geht er weiter. Drei große Engländerinnen in kleinen Kleidchen warten als Einzige auf Einlass - jetzt bloß keine Anmachsprüche! Hinten anstellen. Die erste Regel im "Berghain" habe ich mir sagen lassen: Umgekehrte Psychologie führt zum Erfolg. Einer der Türsteher gibt mir Recht: "Nee, Mädels. Try it somewhere else." Dann taxiert er mich. Nicht mal das Arbeitsamt würde mich so reinlassen. Aber er tritt wortlos zur Seite und macht mir den Weg frei. Ich ziehe ins "Berghain" ein.

02.32 Uhr, Sonntag

Die Tanzfläche: eine Galerie, die in einem zehn, fünfzehn Meter hohen Raum schwebt. Kaum Lichteffekte. Kirchenfenster. Weniger Club, mehr Kathedrale. Verstärkt wird der feierliche Eindruck durch den Dresscode der Pilger. Die meisten tragen Schwarz. Die "Berghain"-Erstlinge stechen heraus: Touristen aus aller Herren Länder, die sich in Berlin neu eingekleidet haben und in ihren Vintage-Klamotten sauber herausgeputzt wirken. Sie stolpern genauso planlos wie ich umher, schnorren mich an. Auf Spanisch, Schwedisch, Italienisch und Englisch. Um Feuer, Tabak, Amphetamine.

"Bist du Deutscher?", fragt mich ein Mädchen im Kapuzenpulli. Sie nestelt am Verschluss ihrer Mate-Flasche herum. "Ja, und du?" - "Geil! Hier, halt mal!", antwortet sie, drückt mir die Flasche in die Hand, wendet sich ab und steigt die Treppe runter. Daraus soll mal einer schlau werden.

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Was auch immer unser Autor getrunken haben mag – einige Stunden vergingen wie im Rausch.

Ihre Mate-Wodka-Mischung schmeckt nach DDR. Als hätte man dünnen Tee zu oft aufgegossen. Ein bisschen bitter im Abgang. Wie Medizin. Aber sie hilft mir, mich schneller einzugewöhnen. Nach einer halben Stunde schalten sich alle Ampeln in meinem Kopf auf Grün. Ich muss ohne Anlass grinsen. Das Wippen meines Fußes greift auf den ganzen Körper über.

Bald gebe ich auf, mir Details zu merken, die ich später aufschreiben könnte. Glück ist, wenn man keine Verpflichtungen mehr hat. MDMA, der pure Wirkstoff von Ecstasy-Pillen, löscht jeden vernünftigen Plan. Die zweite Regel fürs "Berghain" lautet: keine Geschenke von schweißgebadeten Fremden annehmen. Außer, man möchte die nächsten Tage auf der Tanzfläche verbringen.

06.13 Uhr, Sonntag

Martin und Lisa lungern, ineinander verknotet, vor den Toiletten auf einem Sofa herum. Ich frage sie nach der Uhrzeit. Meine Ekstase ist verpufft. Mein Smartphone, das mir sonst Halt und Struktur gibt, habe ich zu Hause vergessen. War wohl besser so: "Wenn du 'ne Kamera im Telefon hast, schicken dich die Türsteher nach Hause oder nehmen's dir ab. Oder du versteckst es draußen im Gebüsch. Machen viele", erläutert Martin, während Lisa versonnen das Loch in ihrer Strumpfhose größer pult.

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"Manche machen Urlaub auf Kreta. Wir machen Urlaub auf Keta."

"An einem Abend habe ich mal beim Rausgehen 15 Telefone eingesammelt. Ist wie Pilzesuchen."

Ich lache halb über Martins Geschichte, halb vor Freude über den einigermaßen verständigen Wortwechsel. Alle anderen hier sind mit sich selbst beschäftigt. In sich gekehrt. Techno-Eremiten.

"Also . . .", beginnt Martin und tauscht einen verschwörerischen Blick mit seiner Freundin, "wir würden jetzt mal 'ne Nase Keta aufm Klo nehmen. Kommst du mit?"

Ketamin? Das Pferdebetäubungsmittel? Die Amy-Winehouse-Eintrittskarte in den Club 27? Ich lehne dankend ab. "Manche machen Urlaub auf Kreta. Wir machen Urlaub auf Keta", sagt Martin und schlägt mir auf die Schulter. "Aber wir haben auch noch ein bisschen Tilidin und Marschpulver." Ich revidiere meinen eigenen Grundsatz: Wenn alle von der Klippe springen, spring mit – aber schreib's vorher auf. Und lerne die dritte "Berghain"-Regel: vor dem Clubbesuch ein Buch über Pharmakologie lesen.

10.24 Uhr, Sonntag

Endlich ist das Bad mal frei, endlich kann ich mir die Zähne putzen. Musste lange genug darauf warten. Tja, die Tücken des WG-Lebens. Auch schlaflose Nächte machen Atemfäule. Meine Hände zittern, als ich die Creme aus der Tube auf die Zahnbürste drücken will. Klar, Unterzucker.

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Wie lange habe ich keine feste Nahrung zu mir genommen? Egal, Hunger spüre ich keinen seit dem Chemie-Picknick mit Martin und Lisa. Ich beginne, meine Kiefer vor dem Spiegel zu schrubben. Der gibt den Blick auf zwei knutschende Muskeltypen frei. Beide tragen schwere Stiefel und Lederhosen. Weniger Petting, mehr Nahkampf. Als sie meinen Blick bemerken, nickt mir einer von ihnen zu.

"Hey! Hast du Lust zu ficken?", fragt er meinen Hinterkopf. Ich spucke den Schaum aus und drehe mich zu dem Pumper-Pärchen um. "Danke, bin wunschlos glücklich", antworte ich höflich.

"Sicher? Kannst auch nur zugucken, wenn du willst."

"Danke. Ich bin vom anderen Ufer. Aber euch viel Spaß", gebe ich zurück, lüfte einen imaginären Hut und stecke die Zahnbürste in die Hosentasche. Ein ganz normaler Vormittag in meiner Teilzeit-WG "Berghain". Eigentlich ein angenehmer Wohnort. Er lehrt dich: Toleranz ist gut. Gleichgültigkeit ist besser.

14.30 Uhr, Sonntag

Die Musik ist düsteres Pochen. Keine Veränderungen, stundenlang. Man muss nicht Einstein sein, um zu verstehen: Zeit ist relativ. Allein durch die wechselnden Gesichter im Halbdunkel bemerke ich, dass sie vergeht. Und dadurch, dass sich salzige Ränder an meiner Kleidung absetzen. Eine Hälfte der Tanzfläche wird nun von einem Pulk aus trainierten Typen mit Bärten eingenommen. Sie streifen umeinander wie Raubtiere. Über der nackten Brust tragen sie gekreuzte Lederriemen.

Meine Idee, mal im Darkroom vorbeizuschauen, verflüchtigt sich – schon hier draußen ist mir der Testosterondunst zu stark. Stattdessen bewege ich mich in die "Panoramabar" ins obere Stockwerk. Tageslicht. Ich pralle zurück. Eine dürre Mittdreißigerin in Gummistiefeln und Wickelkleid rempelt mich an und bittet überschwänglich um Entschuldigung: "Ey, sorry, echt! Bin gerade voll im Stress. Muss zurück zu meinem Sohn. Hatte den Babysitter nur für gestern Nacht bezahlt..." Ich nicke verständig – und bin froh, dass sie nicht meine Mutter ist.

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Die "Panoramabar" ist die Light-Version des "Berghain": melodischerer Sound, weiblicheres Publikum. Wobei es auch hier nicht möglich ist, Frauen anzusprechen, ohne verächtliche Blicke zu kassieren. In anderen Clubs bin ich ein Tiger auf der Jagd. Im "Berghain" bin ich ein Zirkuspony auf der Gnadenkoppel. Erstens besuchen Frauen das "Berghain", um in Ruhe gelassen zu werden. Feiern, allein um des Feierns willen. Ihre Outfits und Mienen senden eine eindeutige Botschaft: kein Interesse.

Zweitens habe ich kein Interesse mehr zu sprechen, geschweige denn herumzuknutschen oder mit einer Dame das Sofa oder die Toilettenkabine zu teilen. Träge Zunge. Tote Hose. Synapsen-Dauerfeuer. Lahme Gangart. Ein Fall fürs Tierheim. Zum Tanzen reicht es noch. Der Druck, großartige Bettgeschichten aus dem Wochenende mitzubringen, ist weg. Aus der Not mache ich eine Tugend. Diese Party ist völlig sinnentleert. Und deswegen so reizvoll. Wieso machen wir das? Stundenlang wie Zombies in dunklen Räumen umherirren? Vierte Regel für einen "Berghain"-Besuch: Erwarte nichts.

19.52 Uhr, Sonntag

Draußen dämmert es. Vor dem Eingang wächst die Schlange der Wartenden weiter. Schichtwechsel. Mehr Feiervolk, das zu den Toiletten strömt, um sich hochzuputschen oder runterzukiffen, weil es morgen arbeiten oder den Ryanair-Flug zurück nach Barcelona erwischen muss. Meine Knie wollen nach Hause. Mein Kopf widerspricht. Man könnte ja was verpassen. Fünfte Regel für einen "Berghain"-Besuch: Zieh dir bequeme Schuhe an.

00.02 Uhr, Montag

Früher trugen die Steinbänke im Foyer tonnenschwere Turbinen. Jetzt tragen sie Milena und mich. Milena kommt aus Ungarn. Mehr weiß ich nicht. Sie war zu mir rübergetorkelt, hatte sich kurz vorgestellt und sitzt nun neben mir. Ihre dunklen Locken liegen auf meiner Schulter.

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Müde sein, doch nicht schlafen können. Wach sein, aber schon träumen.

Ich starre ins Leere und beobachte die Lichtblitze in meinen Augen. Milena atmet gleichmäßig. Schade, dass wir uns erst jetzt getroffen haben, an unser beider Tiefpunkt. Müde sein, doch nicht schlafen können. Wach sein, aber schon träumen. Plötzlich tasten ihre Finger nach meinen. Auf halber Strecke geben sie auf. Milena verfällt wieder in den Stand-by-Modus. Obwohl wir aussehen wie ein Penner-Pärchen, fühlen wir uns sehr zu Hause. Sechste Regel im "Berghain": Niemals vergessen zu gehen.

01.02 Uhr, Montag

Sven Marquardt, gesichtstätowiertes "Berghain"-Aushängeschild, gibt sich am Eingang die Ehre. Demütig blicken die vordersten Glieder der Warteschlange zu Boden, wenn er sie taxiert. Ich bin völlig ausgelaugt – er würde mich wahrscheinlich mit Kusshand empfangen. Doch meine Beine bewegen sich nach draußen. Gruppen orientierungsloser Zombies schlurfen mir entgegen, hinter mir läuft die Feier-Maschine weiter. Plötzlich löst sich einer der Untoten aus der Herde. Er trägt Sonnenbrille, seine Kiefer mahlen unkontrolliert. Er wimmert: "Ey, ist es gut drinnen?" – Ich keuche verächtlich: "Neu hier?" und stolpere in Richtung Taxi.