Do., 06.08.2020
Playboy

Eine Zugfahrt Richtung Westen - Die Reise meines Lebens, Folge 4

Der damals 23-jährige Wladimir Kaminer lässt Russland hinter sich, um in Ostberlin ein neues Leben anzufangen. Dort wird er mit offenen Armen empfangen, und wundert sich

Der Sommer 1990 in Moskau war heiß. Mein Freund mit dem Spitznamen Flipper, nach dem gleichnamigen Delfin aus gleichnamiger amerikanischer Serie, erzählte mir, in Ostberlin wird den sowjetischen Bürgern jüdischer Nationalität humanitäres Asyl gewährt. Für mich ist das schon zu spät, sagte Flipper. Ich habe mein ganzes Zeug, Geld und Möbel nach Amerika abtransportiert. Aber Du hast nichts, keinen Besitz und keine Familie, Deutschland ist genau das richtige Land für Dich. 

Um diese Zeit verließen meine Landsleute in Scharen ihre Heimat. Jahrzehntelang lebten wir in der Sowjetunion von der Welt abgeschlossen, auf einmal war die Reisefreiheit da. Flipper hatte vor drei Monaten eine Green Card im Lotto gewonnen. Er musste nur noch seine leer geräumte Wohnung in Moskau verkaufen. Der Käufer ließ aber auf sich warten, Flipper saß in der Wohnung in Badehose. Er besaß nur noch eine Matratze, einen Videoplayer, einen sowjetischen Fernseher „Regenbogen 311“ und zwei Pornofilme, die er abwechselnd anschaute. 


Schriftsteller Wladimir Kaminer
Credit: Urban Zintel

Der 1967 in Moskau geborene Schriftsteller lebt und schreibt seit 1990 in Berlin. Zu seinen bekanntesten Werken zählen „Russendisko“, „Militärmusik“ und „Ich mache mir Sorgen, Mama“. Am 10. August erscheint sein neues Buch „Rotkäppchen raucht auf dem Balkon“ (Goldmann Verlag, 20 Euro)

Credit: Goldmann / PR

Ich folgte seinem Rat. Am 7. Juli setzte ich mich in den Zug nach Berlin. Die Fahrt dauerte 28 Stunden. In Brest an der Landesgrenze bekam unser Zug neue Räder, weil die Gleise in Europa enger als die russischen waren. Keiner der Mitreisenden hatte eine Rückfahrkarte, ihre Zukunft war ungewiss. Wir haben viel getrunken und viel gelacht. Am 8. Juli stieg ich am Bahnhof Lichtenberg aus. Überall schwenkten betrunkene Menschen deutsche Fahnen, die Autos hupten, die Menschen waren nicht nur freundlich, sie waren euphorisch. Wildfremde umarmten mich auf der Straße. „Was ist hier los?“, dachte ich. Wer hätte gedacht, dass diese Deutschen ein dermaßen fröhliches Volk sind. In mehreren Kneipen bekam ich alkoholische Getränke für umsonst, Bier und Korn mit Cola. Immer wieder riefen alle laut „Deutschland, Deutschland“. Sie benahmen sich so, als würden sie noch immer die Wiedervereinigung feiern. In diesem lustigen Land will ich bleiben, dachte ich.

Erst am späten Abend wurde mir klar, was der Grund für die allgemeine Volksbegeisterung war. Während ich im Zug saß, hatte Deutschland die Fußballweltmeisterschaft gewonnen, sie haben in Rom gegen Argentinien gut gespielt. Am nächsten Tag sah die Stadt weniger fröhlich aus, ziemlich grau und trist. Ich bin trotzdem hiergeblieben.

Titelbild: Tim Möller-Kaya