Di., 26.01.2021
Kommentar

Die Corona-Krise: Bitter aber heilsam

Der Shutdown förderte die Fehler unseres Wirtschaftssystems zutage. Und damit die EINSICHT, DASS WANDEL NÖTIG IST, sagt unser Autor. 

Von Karl-Heinz Land / Foto: Tom Grimbert / Imago

Was ist passiert? Covid-19, ein 100 millionstel Milli- meter winziges Virus hält die Welt seit Monaten in Atem: drohende Überlastung der Gesundheitssysteme, Shutdown ganzer Industrien, Existenzängste, Arbeitslosigkeit. Es gibt bereits knapp 1,7 Millionen Tote, und mehr als 70 Millionen Menschen haben sich infiziert. Infolge der Pandemie nimmt die ökonomische Ungleichheit weltweit dramatisch zu. Was uns Deutschen als wirtschaftliche Krise erscheint, ist für die Menschen in Ländern der Dritten Welt eine Katastrophe biblischen Ausmaßes.

Was war diesmal anders als bei früheren Krisen? Corona kam über Nacht. Innerhalb von Tagen musste gehandelt werden. Was die Klimakrise, das Arten- sterben, die wachsende Ungleichheit, Flüchtlinge und Migration sowie eine tiefe soziale Instabilität bisher nicht geschafft hatten, das schaffte Covid-19 über Nacht: Stillstand! Und als die Systeme langsam oder in Teilen wieder anliefen, erkannten wir Mängel unserer Wirtschaft und Grenzen der Globalisierung. Lieferketten funktionierten nicht mehr, Medikamente und Masken, deren Herstellung wir in andere Länder ausgelagert hatten, fehlten.

Seither hofft die Welt auf Rettung. Verschwörungstheoretiker, Verunsicherte und Rechtsradikale demonstrieren, schwafeln wirr von Lüge, Diktatur und Manipulation. Indessen wird für die Mehrheit der Impfstoff zum Heilsversprechen: „Dann wird alles wieder gut!“ Die große Frage, die bleibt, aber lautet: Sollte alles wieder so werden, wie es vorher war? Wollen wir das wirklich?

Mussten wir tatsächlich für jedes Meeting zum Kunden fliegen? Sollte ein Flug nach Malle und Ibiza wirklich nur 19 Euro kosten? Darf ein Kilogramm Schweinefleisch wirklich nur knapp 5 Euro kosten? Was hätte Joseph Schumpeter, der Makroökonom, wohl dazu gesagt? Er war es, der bereits in den 40er- Jahren des letzten Jahrhunderts von der „Schöpferischen Zerstörung“ sprach. Er sagte: „Die Schöpferische Zerstörung ist notwendig, um Systemfehler zu korrigieren und eine Neuordnung in den etablierten Wirtschaftssystemen herbeizuführen.“ Könnte es also sein, dass Corona uns grundlegende Fehler in unserem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem offenbart? Ist es zum Beispiel Zufall, dass mit Corona gerade die Fleischindustrie (Stichwort Tönnies) in die Schlagzeilen rutschte? Dass die Luftfahrtgesellschaften, die Flugzeugbauer, die Automobilindustrie, die Kreuzfahrtindustrie, der Massentourismus, die Massentierhaltung mit Corona so ins Taumeln gerieten?

Die eigentliche Frage, der wir uns also stellen müssen, lautet: Möchten wir wirklich, dass es wieder so wird wie vor der Pandemie – und sollten wir das wollen? Wir haben in den letzten Jahrzehnten in einer McKinseyesken Trance zwischen Burnout und Wachstumseuphorie gelebt und dabei das Hamster- rad, in dem wir uns befinden, nicht mehr wahrnehmen wollen. Es war wie mit dem Kind und der heißen Herd- platte: Wir ahnten, dass es schmerzhaft werden könnte. Aber Klimawandel, Artensterben, Umweltzerstörung, Massentierhaltung hatten keine Sofort-Konsequenzen. Corona hat dies geändert. Plötzlich tut es weh, und ein neues Bewusstsein sowie ein neues Verständnis für die Dinge machen sich breit.

Tatsächlich entstehen zurzeit aus der Not heraus ganz neue Geschäftsmodelle. Wir erkennen den Wert der Digitalisierung und des technologischen Fortschritts. Home-Office oder gar keine Arbeit. Video-Konferenz oder kein Meeting. Home-Schooling oder gar keine Schule. Selbst die Behörden und Ämter digitalisieren in Rekordzeit. Das Netz wird als das erkannt, was es lange schon sein sollte – die Infrastruktur unseres zukünftigen Wohlstands. Und eine neue Gründerzeit ist angebrochen. Hierzu drei Thesen:

  1. Unsere Wirtschaft wie die gesamte Weltwirtschaft werden sich durch Corona nachhaltig verändern.
  2. Wir befinden uns im Wandel von einer Industrie- zu einer Wissens- und Informationsgesellschaft, der jetzt schneller und massiver vonstatten geht als je zuvor.
  3. Die Digitalisierung und der technologische Fortschritt sind Hebel zu mehr Nachhaltigkeit.

Wir brauchen jetzt neuen Mut und neue Ideen, auf denen unser Wohlstand auch in Zukunft fußen kann. Statt überholte Branchen wie den fossilen Energiesektor zu retten, müssen wir mehr Mittel und Vertrauen in junge, mutige Gründerinnen und Gründer setzen und die Merkmale der neuen Wissens- und Informationsgesellschaft besser verstehen lernen. Es geht nicht mehr allein um Produkte, das Auto, die Maschine usw. In Zukunft geht es um den Service und die Plattform, die es erlauben, Produkte besser zu managen.

Die Corona-Krise hat uns in einer radikalen Form gleich mehrere Systemfehler aufgezeigt. Experten gehen davon aus, dass wir in Zukunft aufgrund von zunehmender digitaler „Fernarbeit“ 40 bis 60 Prozent weniger Bürofläche benötigen. Die Allianz SE hat bereits angekündigt, ein Drittel ihrer Büroimmobilien zu kündigen und nur noch die Hälfte des bisherigen Reisebudgets für ihre Mitarbeiter zur Verfügung zu stellen. Geschäftsreisen werden in Zukunft, lautAngabenderUnternehmen, internationaldrastisch reduziert. Als Konsequenz stehen bei den Fluggesellschaften und den Mietwagenanbietern Flugzeuge und Autos still, die sicher auch in den nächsten Jahren nicht mehr vollständig zum Einsatz kommen werden. Auch die Hotellerie und Gastronomie wird dies zu spüren bekommen. Die staatlichen Unterstützungen, die nicht nur die Lufthansa, sondern viele weitere Unternemen fordern, werden bei Weitem nicht ausreichen, um überholte Geschäftsmodelle am Leben zu halten. Gleiches gilt für die Kreuzfahrtindustrie, den Handel oder die Automobilindustrie. Auch diese Branchen stecken in einer tiefen Krise. Das zunehmende Bewusstsein für die Umweltbelastung wird das Konsum- und Reise- verhalten der Verbraucher massiv und – im wahrsten Sinne des Wortes – nachhaltig beeinflussen.

Lassen Sie uns daher jetzt eine neue Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung erfinden, in der Soziales, Nachhaltigkeit und Marktwirtschaft keine Gegensätze mehr sein werden. Eine ökologisch-soziale Marktwirtschaft. Die sogenannte Zirkulär-Ökonomie, auch Kreislaufwirtschaft genannt, wird die Basis eines solchen Systems bilden. Sie wird den Wert von Produkten an ihrer Wiederverwertbarkeit, also an Prozessen, bemessen. Sie wird globale Arbeitsteilung und weite Transportwege, Wohlstandsmüllberge und Monokulturen beseitigen und zu einer gerechteren Ressourcenverteilung zwischen der heutigen Ersten und Dritten Welt führen. Insofern kann die Pandemie auch eine Therapie sein. Wenn wir es nur wirklich wollen.

Titelbild: TomxGRIMBERTx/Imago