So., 15.08.2021
Sport

Gerd Müller ist tot - Der Mann, den sie "Bomber" nannten

Er war der erfolgreichste Stürmer des deutschen Fußballs und nach Meinung Franz Beckenbauers „der wichtigste Spieler in der Geschichte des FC Bayern München“. Nun ist Gerd Müller, der „Bomber der Nation“, seiner langen schweren Krankheit erlegen. Deutschland verliert eines seiner größten sportlichen Idole, aber auch einen tragischen Helden.

Es gibt tausend Geschichten über Gerd Müller und jede einzelne davon wurde hundertfach erzählt. Generationen, die Gerd Müller selbst nicht mehr live auf dem Spielfeld erleben konnten, kennen sie genauso auswendig wie die alten Fußballhasen. Wie viele Bundesligatore schoss Gerd Müller? Dafür muss man als Fußball nicht googeln oder Wikipedia bemühen. Die Antwort – 365 – weiß man einfach. Und auch sein jahrzehntelang währender Rekord von 40 Toren in einer Saison gehört zum allgemeinen Grundwissen. Auch Fans des HSV oder Sechzger haben diese Zahlen im Kopf. 

„Dann macht es bumm, ja und dann kracht's und alles schreit: der Müller macht's“, heißt es im Lied, das Müller einst selbst über sich sang. So simpel und einfach wie diese Zeilen klingen, so war auch Müllers Spiel. Schnörkellos, unnachahmlich, effektiv. Von einem „typischen Müllertor“ war damals und ist auch heute die Rede, wenn man zum Beispiel sein Tor zum 2:1 im WM-Finale von München ansieht.

Der FC Bayern im Jahr 1966 unter Trainer "Tschick" Čajkovski mit Sepp Maier (3. v. l.), daneben Franz Beckenbauer. Hier wird Müller (vorne, 2. v. l.) zum Torgarant der jungen Bayernmannschaft.
Credit: IMAGO / WEREK

Bei der Ballannahme nach Zuspiel von Rainer Bonhof springt der Ball im Strafraum Müller genau so vom Fuß, dass keiner der niederländischen Verteidiger herankommt. Ein Schuss aus der Drehung, der Ball ist im Netz, Deutschland wird Weltmeister. Geniales Versehen oder absichtlich genial? Die Frage stellt man sich immer wieder, wenn man Müllers vielleicht berühmtestes Tor sieht. Doch es ist eines von 68 Toren in 62 Spielen für die DFB-Elf. Viele von Müllers Treffern sind so überraschend und unberechenbar für den Gegner, dass auch sein berühmtestes wohl kein Zufall war.

Müller gewinnt in seiner Karriere alles, was es als Fußballer zu gewinnen gibt. Dabei war die steile Karriere nicht vorgezeichnet. Müller kommt im schwäbischen Nördlingen zur Welt, ist als jüngste von fünf Kindern und verlässt die Hauptschule mit 14 Jahren, um eine Lehre als Weber zu beginnen. In Nördlingen beginnt er auch mit dem Sport, der ihn zum Weltstar werden lassen sollte. Schon in der A-Jugend soll er in einer Saison unglaubliche 180 Tore erzielen, ehe er mit 17 in die Herrenmannschaft kommt.

"Was soll ich mit einem Gewichtheber?"

1964 schießt er diese mit 47 Toren in die Landesliga, auch die Münchner Löwen werden auf das junge Talent aufmerksam. Nur eine Stunde früher als der 1860-Verantwortliche, soll FC Bayern-Geschäftsführer Walter Fembeck im Hause Müllers auftauchen und dem jungen Gerd einen Vertrag anbieten. Müller, der sich beim hochkarätig besetzten Stadtprimus TSV 1860 keine großen Chancen ausrechnet, entscheidet sich für den damaligen Underdog aus der Säbener Straße.

Unverkennbar: Gerd Müller beim Torschuss gegen Gladbach 1966 im Grünwalder Stadion.
Credit: IMAGO / WEREK

Dort angekommen, findet der bullige Sportler erstmal wenig Beachtung. Trainer Zlatko „Tschick“ Čajkovski hat nicht viel übrig für das schwäbische Talent. „Was soll ich mit dieses Junge, diese Figur, unmöglich!“, so der Kommentar des jugoslawischen Bayern-Trainers, „was soll ich mit einem Gewichtheber?“ Von seinem Trainer erhält er auch den Spitznamen „kleines dickes Müller“. Bei seiner Größe von 1,76 Meter wiegt Müller zwischenzeitlich 82 Kilo und läuft mit Oberschenkeln über den Platz, die einem Angst bereiten können. 68 Zentimeter soll der Umfang betragen. Es braucht den Druck von Bayern-Präsident Neudecker, damit Müller einen Platz in die Aufstellung bekommt.

Zlatko "Tschick" Čajkovski und Gerd Müller mit der Trophäe für die Wahl zum deutschen Spieler des Jahres 1967
Credit: IMAGO / WEREK

Diese Chance nutzt Müller und steuert zum Aufstieg der Bayern in die Bundesliga 33 Treffer bei. Sein Nachname wird zum Verb. Wenn Gerd trifft, dann "müllert" es im gegnerischen Strafraum. Neben Gerd Müller sind es vor allem Beckenbauer und Sepp Maier, die den FC Bayern in andere Sphären hieven. In den 60er-Jahren wird die Truppe für den Weltfußball das, was die Beatles für die Musik bedeuten. Diese Entwicklung gipfelt in den 70ern, als das Bayern-Team, ergänzt um Spieler wie Uli Hoeneß und Paul Breitner, dreimal in Folge den Europapokal der Landesmeister gewinnt. Müller und der FC Bayern sind ganz oben und auch die Nationalmannschaft wird erst Europameister und schließlich Weltmeister.

Credit: IMAGO / Pressefoto Baumann

Doch mit den 70ern endet die Karriere Müllers beim FC Bayern und er verabschiedet sich nach Amerika. Es ist eine gängige Praxis für altgediente Superstars, die letzten Karrierejahre für einen gut dotierten Vertrag in den USA ausklingen zu lassen. Unter den Palmen Floridas gibt sich Müllers stärkster Gegner erstmals zu erkennen: Der Alkohol. Mit einem befreundeten Ehepaar eröffnen die Müllers ein Restaurant und „Der Bomber der Nation“ wird zum Gastgeber. Erst für deutsche Urlauber, zunehmend ist aber er selbst sein bester Gast. Auch in München, in das Gerd Müller 1984 zurückzieht, wächst das Problem. Er verfällt dem Alkohol, private Probleme nehmen zu. Müller wird mit dem Leben abseits des Platzes nicht fertig. Der gefeierte Star ist ziellos und überfordert.

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Gerd Müller mit Ehefrau Uschi am Meer. Nach dem Abschied vom FC Bayern zieht es den "Bomber" in die USA.
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Zwei Bayern in Amerika: Franz Beckenbauers Team Cosmos New York trifft auf die Fort Lauderdale Strikers von Gerd Müller
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Gerd Müller und Geschäftspartner Hans Huber vor dem gemeinsamen deutsch-amerikanischen Lokal "Gerd Muellers Ambry" in Fort Lauterdale
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Gerd Müller als Co-Trainer der Bayern-Amateure
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Weder verwandt, noch verschwägert, aber mit ähnlichem Torriecher: Der junge und der alte Müller
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Die Rettung findet Müller wieder im Fußball. Freunde und Weggefährten wie Uli Hoeneß raten ihm zum Entzug. Schließlich kehrt Müller 1992 zurück zum FC Bayern, um dort eine Funktion als Trainer zu übernehmen. 22 Jahre lang macht hier Müller wieder das, was er am besten kann: Zeigen, wie man Tore schießt. Er wird Co-Trainer der Bayern-Amateure, die von Hermann Gerland betreut werden. Auch ein anderer Müller, Vorname Thomas, wird während dieser Zeit zum Ausnahmestürmer. Als Ratgeber der Jugend erlebt der „Bomber“ seinen zweiten Frühling, fühlt sich gut aufgehoben in der „Familie FC Bayern“.

Gerd Müller war ein Großer, weil er nie groß sein wollte

Dann, im Herbst 2014, Deutschland ist gerade zum vierten Mal Weltmeister geworden, muss Müller krankheitsbedingt aufhören. Bei Müller, der damals gerade einmal 70 Jahre alt ist, verstärken sich die Symptome der Alzheimer-Krankheit, wie der FC Bayern im Jahr 2015 bekannt gibt. Die letzten Jahre verbringt er als Pflegepatient. Am letzten Spieltag der Saison 2020/2021 geschieht das, was viele für unmöglich hielten. In der letzten Partie Saison erzielt Bayernstürmer Robert Lewandowski seinen 41. Treffer. Schon eine Woche vorher, als Lewndowski mit seinem Vorgänger gleichziegt, ehrt der Pole den bisherigen Rekordhalter. „4Ever Gerd“ steht auf dem Shirt unter Lewandowskis Trikot.

Das alles bekommt Müller nicht mehr mit. „Er schläft seinem Ende entgegen“, wird seine Frau Uschi, die Müller 1967 heiratete 2020, zitiert. Am 15. August 2021 endet dieser Schlaf. Gerd Müller stirbt mit 75 Jahren. „Heute steht die Welt des FC Bayern still“, heißt es auf der Webseite des Vereins, die komplett in Grautönen gefärbt ist. Beim FC Bayern weiß man, was man Gerd Müller zu verdanken hat. In einem Verein, der so unendlich viele Talente und Weltstars sein Eigenen nannte, gilt Müller als eine Art Urknall. "Was der FC Bayern heute darstellt, mit diesem Palast an der Säbener Straße – ohne Gerd Müller wären die Leute da immer noch in dieser Holzhütte von damals", gab Bayern-Legende Franz Beckenbauer einst zu verstehen. "Gerd Müller war ein Großer, weil er nie groß sein wollte, ein Genie, das mit Herz und Köpfchen spielte und ein Instinktfußballer, wie es ihn so wahrscheinlich nie mehr gab und geben wird", äußerte sich Karl-Heinz Rummenigge, langjähriger Bayern-Vorstand und Weggefährte Müllers, zu dessen Tod. Die Fußballwelt trauert um einen ihrer besten und weltweit erinnern sich Fans, Weggefährten und Ausnahmesportler an den Mann, den sie „Bomber“ nannten.

 

Titelbild: IMAGO / Sven Simon