Mo., 05.09.2016
Entertainment

Streitschrift: Warum wir uns nicht gegen die digitale Revolution sperren sollten

Daddeln, surfen und digitales Dauerfeuer machen dumm? Blödsinn, wir brauchen sogar mehr davon, sagt unser Autor

Der Ur-Schisser war Platon. Das Medium Schrift schädige unser Gedächtnis, sorgte er sich. Später warnte der Philosoph Johann Adam Bergk vor Antriebslosigkeit als Folge von zu viel Buchkonsum. Die Bedrohung hieß damals „Romanleserey“. Und britische Ärzte befürchteten bleibende Hirnschäden bei rasanten Fahrten mit 50 Stundenkilometern. Die Gefahr: eine Innovation namens Zug.

Credit: Playboy Deutschland

Diese Fortschrittsfeiglinge! Hätte sich ihre Zunft gleich zu Beginn der Menschheitsgeschichte durchgesetzt, lebten wir heute noch in Höhlen und gingen mit Keule und Flitzebogen auf Karnickeljagd. Aber Großmutter Geschichte lehrt uns: 1. Einer mahnt immer. 2. Fortschritt sticht Mahner.

Die Johann Adam Bergks unserer Zeit heißen Manfred Spitzer, Harald Welzer oder Alexander Markowetz. Und auch die „Romanleserey“ firmiert unter neuen Namen. In Büchern und Beiträgen heben die modernen Maschinenstürmer den Zeigefinger und warnen unter Titeln wie „Digitale Demenz“, „Cyberkrank“, „Digitaler Burnout“, oder „Das Herrschaftsinstrument Smartphone“ vor Verdummung, Sucht, Krankheit und Kontrollverlust.

Hirnforscher Manfred Spitzer mahnt, Navigationsgeräte töteten unsere Orientierungskompetenzen. Gespeicherte Telefonnummern und Termine griffen unsere Gedächtnisleistung an. Und das Internet zerstöre eigenständiges Denken. „Unser Gehirn funktioniert wie ein Muskel“, sagt Spitzer. „Wird er gebraucht, wächst er; wird er nicht benutzt, verkümmert er.“ Für ihn ist die digitale Ära „weitaus schlimmer für die Menschheit, als es Nikotin je war“. Spiele wie „World of Warcraft“ - die reinste Droge. Sie verwahrlose, mache einsam, lern- und beziehungsunfähig und kriminell. Obendrein laugen uns die ständige Erreichbarkeit und Interaktion übers Smartphone aus, warnt Buchautor Markowetz („Digitaler Burnout“). Alle 18 Minuten unterbrächen wir unsere Tätigkeit durch einen Blick auf den digitalen Quasselkasten, verlören die Momente der Konzentration und Ruhe. Die Digitalisierung sei somit verantwortlich für die Zunahme psychischer Probleme.

Und auch der Soziologe Welzer stellt ein Warnschild auf: Die Digitalisierung sei „eine herrschaftstechnische Innovation“. Eine neue Form der Diktatur, gespeist aus einer „porenlosen Transparenz“, wie totalitäre Systeme sie liebten. Das Handy informiere ständig über unser Privatleben. Welzers Rat: Werfen wir das Smartphone weg, solange noch Zeit dazu ist.

Wie bitte? Bitte nicht!

„Wer sich dem Fortschritt verweigert, der kann ihn nicht mitgestalten“, sagt Tobias Burkhardt, Gründer von Deutschlands erster Akademie für den digitalen Wandel. Die Technologie sei nicht das Problem, „sondern die Einstellung dazu“. Lassen wir also mehr Digitales in unser Leben, sehen wir die Chancen darin, umarmen wir die Einsen und Nullen! Und vergessen wir das viel zitierte „Früher war alles besser“.

Denn morgen ist alles anders. Dieser Planet digitalisiert und vernetzt sich zunehmend. Nach Computern und Menschen beginnen bereits Haushaltsgeräte, sich via Internet zu verbinden. Roboter lernen, die künstliche Intelligenz wächst - und nimmt uns zunehmend Arbeit ab. In den kommenden 20 Jahren, schätzten Forscher der Bertelsmann-Stiftung, wird ein „digitaler Darwinismus (. . .) immer mehr Berufsgruppen und Tätigkeiten durch Automation“ ersetzen. Na und? Hat die Industrielle Revolution im 19. Jahrhundert die Menschheit etwa ins Verderben gestürzt? Oder leben wir, dem technischen Fortschritt sei Dank, heute immer länger und sicherer und haben viel Zeit für neue Kreativität gewonnen, neue Errungenschaften und Berufszweige hervorgebracht?

Genauso wird die digitale Revolution uns nicht vernichten. Im Gegenteil: Uns bleibt „nicht lineares Denken als menschliche Domäne“, schreiben Forscher der Universität St. Gallen in einer Studie zur Zukunft der Arbeitswelt, was bedeutet: Die Kontrolle der Maschinen, das Schaffen neuer Technologie, das Experimentieren, das Unternehmen und lebenslange Lernen bestimmen unsere Zukunft. Auf spielerische Art hat sie längst begonnen. Denn durch Spiele erobern wir uns schon als Kinder und Jugendliche die digitalen Welten.

Die Games zerstören mitnichten unsere Lernfähigkeit, wie Spitzer mahnt. Vielmehr helfen sie, unsere fluide Intelligenz, die fürs Problemlösen zuständig ist, weiterzuentwickeln. Sie wächst, wenn wir Neues erkunden, uns selbst herausfordern, kreativ denken und netzwerken - Tätigkeiten, die die Spieler von „World of Warcraft“ kennen. Der US-Autor Gabe Zichermann erklärt den sogenannten Flynn-Effekt: die Tatsache, dass die fluide Intelligenz seit den 1990ern weltweit wächst - für ihn eine Folge des Booms von Videospielen.

Es ist genau diese Art von Intelligenz, die wir in Zukunft brauchen. Die andere, die kristalline Version, speist sich aus Allgemeinbildung und Schulwissen - und wird obsoleter dank unseres ständigen digitalen Zugangs zum Weltwissen. Personen befördern kann heute jeder, der einen Führerschein und ein Navi hat. Das Auswendiglernen von Straßennamen ist überflüssig geworden. Die Frage ist nur: Was macht der Taxifahrer der Zukunft in der gewonnenen Zeit - vor allem, wenn Taxis bald von allein fahren?

Er wird kreativ werden müssen - und ganz bestimmt keinen Burnout erleiden. Wer seine digitalen Geräte kreativ nutzt, filmt, schreibt, komponiert, neue Apps und Möglichkeiten austestet, bleibt im ständigen Kreations-Sparrings-Modus. Auch dem künftigen Arbeitsleben kommt das zugute.

Aber leider steckt in jedem von uns ein Fortschritts-Schisser. Das wusste bereits Douglas Adams, der sinngemäß formulierte: Was da ist, wenn wir auf die Welt kommen, nehmen wir als normal hin. Was entsteht, bis wir 30 sind, sehen wir als Chance. Und alles, was danach kommt, ist ein Niedergang der Kultur. Daher: Wer alt ist, muss mutig sein und seine Fortschrittsangst überwinden. Also seien wir echte Kerle! Die digitale Revolution hat längst begonnen. Die Hunde bellen, die Karawane zieht weiter.

Maximilian Gaub, 41, ist Autor, Medientrainer und Learning-Designer. Auf seinem Blog worldofmencraft.com erforscht er, welche Skills seine Söhne (zehn und 15 Jahre alt) in der Welt von übermorgen benötigen.

Titelbild: MICHAEL PLEESZ FÜR PLAYBOY