Mo., 24.08.2020
Kommentar

Streitschrift des Monats: Empathie-Pornografie

Plakativ zur Schau gestelltes Einfühlungsvermögen wurde in der Corona-Krise zum Instrument von Selbstdarstellern und Politikern, um uns für dumm zu verkaufen, sagt unser Autor. 

Autor: Hans Martin Esser

Wenn ich eines an der Corona-Zeit auf gar keinen Fall vermissen werde, dann sind es die großen Gesten. So schlimm das Virus auch wurde, gruseliger waren die mit viel Pathos daherkommenden Videos aus den privaten Büros, Wohnzimmern und Küchen der Republik. Kommentatoren, Seismografen des Zeitgeistes und Kaffeesatzleser sowie seit Jahrzehnten erfolglose Musiker saßen vor den immer gleichen Ikea-Regalen und sagten mit vielen Worten wenig oder spielten mit der heißen Nadel gestrickte Songs. Subsummiert wurde dies unter dem Hashtag #wirhaltenzusammen oder ähnlichen Überschriften.

Man ist geneigt, diese Darbietungen als Empathie- Pornos zu verbuchen – zehn Minuten vor einer Kamera mit schlechter Auflösung und einem Pflichtprogramm aus fast identischen Bausteinen sowie oftmals offensichtlich vorgetäuschten Gefühlen, um Klicks zu erheischen, copy and paste, così fan tutte. Die Parallele zu schmuddeligen Filmchen liegt nicht nur an dem immer gleichen Ablauf, sondern auch an Unzweideutigkeit sowie dem schwachen Gehalt der Aussagen.

Wenn Corona eine neue Normalität darstellt, dann hoffe ich, dass diese Art der selbst gebastelten Videos uns nicht allzu lange vergönnt bleibt. Bei den seltenen Spaziergängen Ende März bis Anfang April fielen Werbetafeln auf, die diesen Hashtag-Sprech aufgriffen, indem unter anderem ein Hersteller von Süßigkeiten #wirbleibenzuhause plakatierte.

Es war die Seuche. Corona nervte dermaßen, dass es mir vorkam, als sei man als Statist in einer Streaming-Serie gelandet, an deren Staffelfinale Markus Söder ganz nach „House of Cards“-Manier vom Schreibtisch im Kanzlerbüro wortlos zur Kamera aufblickt und grinst. A Hund is a scho. Hoffentlich bleibt uns eine zweite Staffel der Pandemie im Herbst erspart, sonst kündige ich das Abo. Um dem Grusel einen positiven Spin zu geben, hat man zwei positiv konnotierte Wörter aneinandergereiht, nämlich neu und Normalität, das war so ungefähr in Folge 3. An dieser Wortkreation bin ich nicht ganz unbeteiligt, schließlich ist neue Normalität ein Schlüsselbegriff meines Essays „Die große Klammer“.

Gemeint ist damit allerdings nicht die schönfärberische Verblendung eines Ausnahmezustands, sondern die Veränderung der Wirklichkeit in Abstimmung mit den Bürgern. Nur so eine Normalität ist von Dauer. Die Funktionslogik großer Begriffe lässt sich aber besser im Zusammenspiel mit ebenso großartigem Überbau verstehen: Als Großnarrativ und Modewort der letzten Jahre hat sich Empathie auf dem Parkett festgetreten (#zusammenallein). Leider nur ist ebenjene Empathie zu einer Kampfvokabel mutiert, um den Wortnutzer selbst in ein vorteilhaftes Licht zu rücken. Als ich im Rahmen der Leipziger Buchmesse 2019 den Literaturkritiker Ijoma Mangold interviewte, nannte er genau die- sen Aspekt am aktuellen Empathie- begriff unangenehm und aufdringlich. Empathie ist zum exklusiven Statussymbol, zur Selbstaufwertung mutiert, darin waren wir uns einig.

"Empathie ist zum exklusiven Statussymbol, zur Selbstaufwertung mutiert" 

Stromberg, der ewige Machiavelli des Büros, am Ende in der Politik, ohne von irgendwas Ahnung zu haben außer von seinem Drang zu Höherem. Warme Worte und starke Bilder haben ihm den Weg bereitet, wobei er sie stets als Waffe gegen seine Konkurrenten in Stellung brachte. Nach Castorfs Vorbild könnte man ja zur Abwechslung bei Virologen, den Drehbuchautoren unseres heutigen Alltags beziehungsweise unserer neuen Normalität, auch mal ein paar Bar übermenschliche Aufgeblasenheit herauslassen. Mir fällt auf, dass selbst kritische Zeitgenossen und Intellektuelle ins Schwärmen geraten, wenn Christian Drosten ans Mikro tritt. Er besitzt zwar weniger Pathos als seinerzeit Bernd Stromberg, allenfalls eine ebenso markante Frisur. Die Schwärmerei der deutschen Intelligenzija für den Charité-Forscher erinnert mich aber an Omas Hingabe an Vorabendserien wie „Der Landarzt“, beseelt vom Wunsch, in Ärzten heilende Priester zu sehen.

Entsprechend haben wir auch eine Zweiteilung des Landes in Gruppen, nämlich Team Drosten und Team Streeck, Gläubige und Ungläubige, Erwählte und Verdammte. So bekommt selbst kühle Naturwissenschaft große Gesten nebst moralischer Kategorisierung. Hendrik Streeck könnte in Vorabendserien den rebellischen Jungspund mimen.

Alexander Kekulé wäre die Idealbesetzung eines „Schwarzwaldklinik“-Leiters. Und Drosten, der über allem thront, könnte in der dritten Staffel von „The Young Pope“ die Tiara tragen. Das wäre dann gar nicht so drüber wie bei Elton John.

Allen, die sich entweder salbungsvoll äußern oder eine religiös anmutende Begeisterung hervorrufen, ist eines gemeinsam: Widerrede unerwünscht. Mit Sätzen wie „Das Virus diskutiert nicht“ endet oft die Kritik. Ist das gesund? Auf jeden Fall ein Kollateral- schaden der Pandemie an der demokratischen Kultur. Aktivisten, Virologen und youtubende Seismografen aus dem Bürokeller bestimmen ohne Mandat den Inhalt der Serie.

Ein gesundes Misstrauen gegenüber großen Worten und Gesten bleibt angebracht. Stellen wir uns doch einfach vor, wir hätten es nicht mit selbstlosen gut frisierten Helden zu tun, sondern mit einem zweckrationalen Opportunisten wie Stromberg, besonders, wenn das Pathos zu sehr trieft. Im Zweifel ist eine solche Haltung gesünder als jede Pandemie.

Über den Autor:

HANS MARTIN ESSER
Jahrgang 1978, studierte in Bochum Ökonomie, anschließend im Studium Generale in Berkeley und Cambridge Film Studies, Mittelalter- wissenschaft und Philosophie. 2019 erschien sein Essay „Die große Klammer – eine Theorie der Normalität“ (Kulturverlag Kadmos, 19,90 Euro)