„Gott ist rund“, verkündet der Journalist Dirk Schümer in seinem gleichnamigen Buch über den Fußball. Und Gott macht Fehler. 1966 verlor Deutschland das WM-Endspiel gegen England, weil der Linienrichter den Ball nach einem Lattentreffer fälschlicherweise hinter der Linie wähnte. Das war gemein und unfair – und passte gut in die Zeit. Denn auch jenseits des Fußballplatzes regierte die Willkür. Die Geschichte der Menschheit ist eine Aneinanderreihung von Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten. Und der Fußball das Spiegelbild einer Welt, in der vieles schieflief.
Aus und vorbei! Mittlerweile verhindert ein Arsenal an Hightech Phantomtore, unberechtigte Elfmeter und übersehene Tätlichkeiten. Der Fußball ist dadurch berechenbarer geworden – und langweiliger. Video killed den blinden Schiri.
„Alle Lebensbereiche sind dem Willen zur Perfektion durchdrungen“
Kommt Ihnen das bekannt vor? Nicht nur in der Welt des Fußballs werden Fehler nicht länger toleriert. Alle Lebensbereiche sind von dem Willen zur Perfektion durchdrungen. Das war mal anders. Wer Anfang der 70er ein Auto kaufte, der wusste, dass er ein unzulängliches Verkehrsmittel erwarb. Ein lautes, stinkendes Mängelexemplar, das er im Falle eines Unfalls nicht unversehrt verlassen würde – über 20.000 Verkehrstote im Jahr (heute sind es 2700) sprachen für sich. Das war natürlich schrecklich. Aber schrecklich war auch, dass viele mit 50 an Herzinfarkt oder Krebs starben, weil sie zu viel geraucht, getrunken und gevöllert hatten. Schrecklich waren die chemietoten Flüsse, die prügelnden Lehrer, der Krieg in Vietnam, die Unterdrückung der Frau, die verpestete Luft, der Bundesliga-Skandal, der Rüstungswettlauf, die runtergekommenen Städte und, und, und.
Diese Welt – so viel stand fest – musste radikal verändert werden. Mit ein wenig Kosmetik war es nicht getan. Deshalb gingen viele auf die Barrikaden und manche in den Untergrund. Doch auch jene, denen nicht der Sinn nach Häuserkampf und Revolution stand, zum Beispiel Unternehmer und Forscher strebten nach einem grundlegenden Wandel. Denn der ganze Alltag war fehlerbehaftet. Schallplatten knisterten, Kassetten rauschten, Farbfotos vergilbten, Autos rosteten, und an den eben erst gebauten Hochhäusern bröckelte bereits der Beton ab. Tagtäglich wurde man daran erinnert, wie unvollkommen das Leben doch war. Der Verfall schien allgegenwärtig.
„In den 80ern bewies die Compact Disc: Unvergänglichkeit ist möglich, Perfektion erreichbar“
In den 80ern änderte sich dies. Plötzlich gab es eine kleine, glitzernde Scheibe, die mit Musik gefüllt war: die Compact Disc. Sie war mehr als ein weiterer Tonträger, sie wurde das Symbol der schönen neuen Digitalwelt. Mit der CD verschwanden nicht nur das analoge Knistern und Rauschen. Sie war der Beweis dafür, dass man einen Gegenstand beliebig oft benutzen konnte, ohne dass er verschliss. Selbst nach dem tausendsten Hören klang sie immer noch gleich – wie beim ersten Mal. Damit bewies diese zwölf Zentimeter große Scheibe, dass Unvergänglichkeit möglich, Perfektion erreichbar war.
So wurde das Zeitalter der Optimierung eingeläutet. Von nun an galt: So perfekt wie die Compact Disc sollte das ganze Leben sein. Angefangen beim eigenen Körper. Im gleichen Jahr, als die CD auf den Markt kam, 1982, setzte auch der Aerobic-Boom ein. Speckröllchen waren nicht länger Ausdruck eines Sinnesmenschen, der zu genießen verstand, sondern Beleg für Unvollkommenheit. Mit den millionenfach verkauften Fitness-Videos von Jane Fonda und Sydne Rome wurde der sehnige, durchtrainierte Körper zur Richtschnur vieler Frauen. Seitdem gehören japsende Joggerinnen und weibliche Restaurantgäste, die lustlos im Salat picken, zum öffentlichen Bild.
„Auch die Liebe bleibt vom Optimierungswahn nicht unberührt: Das System der Matching-Points suggeriert, dass Liebe mathematisch messbar ist“
Auch die Liebe blieb vom Optimierungswahn nicht unberührt. Frühere Generationen waren sich im Klaren darüber, dass der Mensch, mit dem sie zusammenlebten, Fehler und Mängel aufwies. Manchmal musste es als Begründung ausreichen, „das kleinere Übel“ geheiratet zu haben. Dennoch gab es sie: die Liebe auf den ersten Blick. Heute geschieht dies per Klick. Die von Algorithmen gesteuerten Partnerbörsen gaukeln vor, dass es irgendwo dort draußen den perfekten Partner gibt. Das System der Matching-Points suggeriert, dass Liebe mathematisch messbar ist.
Und was beim Online-Dating eingesetzt wird, findet erst recht in der Wirtschaftswelt Anwendung. Da mittlerweile selbst kleinere Ausgaben vor der Controlling-Abteilung gerechtfertigt werden müssen, wird die Messbarkeit zum wichtigsten Entscheidungskriterium. Die Digitalisierung von Informationen in Verbindung mit Data-Mining – der Verarbeitung und Auswertung riesiger Datenmengen – haben Möglichkeiten eröffnet, die selbst einen George Orwell staunen ließen. Die IT ist die neue Konzernreligion. Das hat Folgen für die Firmenkultur. An die Stelle des Unternehmers, der sich intuitiv – angetrieben von Ideen und Visionen – auf fremdes, unbekanntes Terrain vorwagte, tritt der Effizienzer, der jeden Handlungsschritt durch Statistiken und Big Data abzusichern sucht. Die Folgen dieses Denkens bekommen vor allem Zeitungen, Marketingabteilungen und Agenturen zu spüren. Wo das Diktat der Klickraten herrscht, rücken Inspiration und Kreativität in den Hintergrund – sie sind nicht messbar.
„Eine schlechte Welt kann nur besser werden, selbst wenn man Fehler macht“
In dieser Zahlengläubigkeit aber drückt sich die nackte Angst aus. Die Angst vor Fehlern. Es ist eine Angst, die unseren Vorfahren fremd war. Wer Elend und Ausbeutung, Hunger und Krieg überlebt hatte, zweifelte keine Sekunde daran, dass diese Welt eine Zumutung war, eine Unverschämtheit. Das Leben in einer solchen Welt war ungerecht, willkürlich und grausam. Doch aus dieser bitteren Einsicht erwuchs Lebenshunger. Als Diana Ross 1970 sang „Reach out and touch somebody’s hand! Make this world a better place if you can“, sprach sie einer ganzen Generation aus der Seele.
Und irgendwie hat es ja auch geklappt mit der besseren Welt. Luft und Flüsse sind wieder halbwegs sauber, Frauen können Kanzler werden, die Innenstädte sind luxussaniert, und Vietnam boomt. Doch vielleicht liegt genau darin auch ein Problem: Eine schlechte Welt kann nur besser werden, selbst wenn man Fehler macht. In einer halbwegs guten Welt aber hat man viel zu verlieren, zum Beispiel die Eigentumswohnung, den Zweitwagen, den jährlichen Dritturlaub. Und diese Angst lähmt. Sie macht uns zu Sklaven der digitalen Kontrolleure. Wir gehorchen den Vorgaben der Maschinencodes und Algorithmen, ziehen Uhren an, die unsere Aktivitätsziele überprüfen – und werden dabei selber zu Maschinen. Denn wer nur der Spur der Daten folgt, lebt nicht.
Höchste Zeit, mal wieder etwas zu wagen! Wann haben Sie zuletzt bewusst einen Fehler gemacht?
Frank Jöricke
Der Buchautor, 54, betreibt auch in seinem aktuellen Werk unterhaltsame Zeitgeist-Analysen: „War’s das schon? – 55 Versuche, das Leben und die Liebe zu verstehen“ (Solibro Verlag, 14,95 Euro)