Mi., 20.03.2019
Interviews

"Wenn Männer das wüssten..."

Ginge es nach Ann-Marlene Henning, würden vor allem Männer viel mehr über Sex sprechen. So, wie sie es in ihrer Praxis, in verschiedenen TV-Sendungen und in ihren Büchern tut. Dann ginge es uns allen sehr viel besser. Warum? Deutschlands bekannteste Sexologin lüftet das Sex-Geheimnis des männlichen Beckenbodens und plädiert für mehr „genitale Gerechtigkeit“.

PLAYBOY: Ihr neuestes Buch handelt von Männern und Sexualität – ein heikles Thema?

Ann-Marlene Henning: Ja, kann man so sagen. Sehen Sie, der Körper eines gesunden Mannes funktioniert, sexuell gesehen, in der Regel einfach. Männer brauchen sich also grundsätzlich hier nicht so viele Gedanken zu machen. Aber auch Männer werden älter ... Ich will nicht den Zeigefinger erheben . . .

... aber Sie sprechen die Themen trotzdem an, warum?

Weil diese Dinge alle zusammenhängen: Körper, Beziehungen, Gesundheit und Sex.

Kennen wir Männer unseren Körper etwa nicht so gut, wie wir meinen?

Sagen wir es so: Der weibliche Körper stellt Frauen regelmäßig vor neue Herausforderungen, egal, ob Periode, Schwangerschaft oder Menopause. Dadurch müssen sich Frauen zwangsläufig immer wieder mit ihrem Körper auseinandersetzen. Und sie sprechen viel mehr darüber. Männer müssen das meistens nicht. Das gilt auch für den Sex. Jungs finden für sich allein früh heraus, was sich gut anfühlt, und bleiben dann meist auf diesem Stand. Es könnte aber eben noch besser sein.

Was würden Sie uns Männern raten?

Neugieriger sein! Mehr reden und erfahren wollen. Dann könnte der Sex noch viel geiler sein. Wenn Sie zum Beispiel wüssten, was die meisten Frauen wissen, nämlich, was man mit dem Beckenboden alles anstellen kann . . .

Und schon sind wir neugierig!

Also: Zwei Drittel des Penis befinden sich im Inneren des Körpers, nur ein Drittel hängt heraus. Würden Männer ihren Beckenboden trainieren, könnten sie ihre Lust viel besser steuern, längeren und standhafteren Sex haben, weil sie die An- und Entspannung der zuständigen Muskeln besser kontrollieren und steuern könnten. Wenn Männer das wüssten, gäbe es längst in jeder Stadt Hunderte „Becken- boden-Tempel“! (Lacht)

Weil Männer mehr Sex wollen als Frauen – oder stimmt das gar nicht?

Nein, ich würde sagen, da sind wir ziemlich ausgeglichen. Wobei man sagen muss, dass dieser spontane Sex aus Geilheit bei Männern ausgeprägter ist, das liegt an den Hormonen. Wobei auch das wieder auf rund ein Viertel der Männer gar nicht zutrifft. Man darf es sich da nicht zu leicht machen, wir Menschen sind viel zu komplex für solche Behauptungen.

Sie schreiben, dass sich Männer und Frauen all ihrer klaren Unterschiede zum Trotz eigentlich viel ähnlicher sind als angenommen.

Biologisch haben wir sehr viele Gemeinsamkeiten, auch beim Genital. Die Geschlechtsorgane sehen zwar unterschiedlich aus, stammen aber embryologisch aus dem gleichen Gewebe und ähneln sich im Aufbau sehr. Unter Männern und auch unter Frauen gibt es viel größere Unterschiede als generell zwischen Mann und Frau.

Und Sie wollen im Buch mit Mythen über Männer aufräumen. Welcher Mythos ärgert Sie am meisten?

Dass Männer kaum Gefühle haben und schlechter die Gesichter anderer lesen können sind beides Klischees. Diese Degradierung des Mannes ist riesiger Schwachsinn! Männer haben genauso viele Gefühle, sie lernen nur, dass sie diese nicht zeigen dürfen, weil sie sonst als schwach gelten könnten.

Warum, denken Sie, sind die klassischen Rollenzuschreibungen trotzdem so stabil?

Das hat zwei Gründe. Der Mensch will sich einsortieren, um Sicherheit zu finden: Wo sind die anderen, die so sind wie ich? In Wahrheit existiert die reine Form des Mannes oder der Frau aber nicht, es gibt viel mehr dazwischen. Wir alle bewegen uns auf einem Kontinuum zwischen männlich und weiblich, jeder trägt Anteile von sowohl „typisch männlich“ als auch „typisch weiblich“ in sich. Wenn wir stur in zwei Lagern denken, grenzen wir alle aus, die nicht in unsere Raster passen. Der andere Grund ist das Patriarchat. Eine Hälfte der Menschheit hat dadurch einen riesigen Vorteil. Menschen mit Penis sind automatisch mehr wert, bestimmen die Welt. Das ist eine harte Aussage, und ich meine sie nicht als Kampfansage. Aber Sie sehen ja momentan, was diese Art Mann mit seiner Macht anstellt. Das Patriarchat schadet sowohl Frauen als auch Männern.

Welche Nachteile haben Männer dadurch?

Es entsteht enormer Druck für alle Männer, die nicht dieses Alphamännchen sein wollen. Wer will schon als „Warmduscher“ bezeichnet werden, nur weil er keine Führungsposition einnehmen möchte, weil er eben lieber bei den Kindern zu Hause bleibt . . .

. . . und Beckenboden-Training macht?

Genau, weil er auch über Sex offen sprechen und dazulernen mag! Es gibt viele Männer, gerade ältere, die haben ihr Leben lang Probleme gehabt, über solche Dinge zu sprechen, lebten 40 Jahre oder mehr mit einem sexuellen Problem – oder ohne Sex, weil sie etwas nicht ansprechen mochten. Ich habe 70-Jährige in der Praxis, die weinen, weil sie merken, wie leicht das Gespräch ging, und weil ihnen bewusst wird, wie einfach und anders ihr Leben hätte sein können. Mit mehr Gefühl und mehr Spaß. Wir sollten alle offener sein.

Es tut sich ja doch gerade einiges in unserer Gesellschaft. Von #MeToo bis zur Anerkennung des dritten Geschlechts in Deutschland . . .

Und das ist auch bitter nötig. Solange Frauen immer noch weniger verdienen als Männer, nicht über ihren eigenen Körper bestimmen dürfen und zum Beispiel als Schlampen beschimpft werden, wenn sie ihre sexuellen Interessen so ausleben wie Männer, müssen wir eben laut schreien. Es geht einfach nicht, dass diese Unterschiede gemacht werden. Die amerikanische Professorin Sara McClelland sagt dazu „genitale Gerechtigkeit“.

Wo stehen wir also heute, rund 50 Jahre nach der sexuellen Revolution der 1960er?

Es gab eine weitere Welle, die neosexuelle Revolution Anfang der 2000er. Denken Sie nur an die Digitalisierung und das Internet: Es gibt heute quasi alles, und bis auf wenige Ausnahmen ist auch alles erlaubt. Diese Freiheit hat zu einer Gegenbewegung geführt, und das aus gutem Grund. Wir müssen die Grenzen heute neu ausloten, und jeder muss für sich entscheiden: Was will ich eigentlich? Deshalb machen manche auch Rückschritte und warten zum Beispiel mit dem Sex bis zur Ehe. Wobei ich persönlich sage: „Keine Ehe vor dem Sex, bitte!“ Wichtig auch: Im Moment fehlt das richtige Maß an Aufklärung – um gute eigene Entscheidungen zu treffen.

Sie sind in Dänemark geboren, leben aber seit über 30 Jahren in Deutschland. Wo ist man sexuell fortschrittlicher?

Ich sehe immer noch viel dänisches Fernsehen. Das ist ein ganz gutes Barometer. Allein die Werbung dort zeigt mir, wie entspannt die Dänen zur Körperlichkeit stehen und mit welch lässigem Humor sie bei Themen wie Sexualität und Geschlechterrollen vorgehen. Dagegen wirkt so manches in Deutschland wie aus den 1950er-Jahren.

Wie sieht Ihre Zukunftsprognose für Deutschland aus?

Positiv! Auch wenn es aktuell etwas prüde zugeht, glaube ich, dass wir auf einem guten Weg sind. Gerade viele junge Frauen und Männer wirken auf mich sehr tolerant und äußerst bewusst – bereit für neue Zeiten mit mehr Spür-Spaß für uns alle.

Titelbild: Gunnar Meyer