Jahresrückblick 2021: Reportage über Jonas Deichmann
Die US Playmate Tanerélle auf dem Cover der Dezember-Ausgabe des Playboy – inszeniert von Sasha Samsonova
Playboy 2021/12
Magazin

Inhalt

UPDATE

First Lady: Lady Gaga lädt ins „House of Gucci“

Ein guter Monat für: Gamer und Kino-Fans

15 Fragen an ... Pop-Größe Dave Gahan

Stil: Halsschmuck für Männer 

Reise: Fünf Tipps für mächtig Spaß im Schnee

Männerbar: Die besten Dessertweine

Männerküche: Die Kunst der perfekten Käseplatte

Wein des Monats: Der Rote für die Feuerzangenbowle

Playboy-Umfrage: Die Hobbys der Deutschen

Pro & Contra: Zu Hause bleiben statt ausgehen

Motor: Luxus auf koreanisch – der Genesis G80

REPORTAGE

Der Rund-um-die-Welt-Triathlet: Jonas Deichmann bezwingt laufend, schwimmend und radelnd den Globus. Und ist schon vor dem Zieleinlauf eine Ikone

INTERVIEW

Francis Ford Coppola: Der legendäre Regisseur über das Leben in einem Kino-Clan – und den Moment, als er Tom Cruise entdeckte

MOTOR & TECHNIK

Porsches elektrische Zukunft: Chefdesigner Michael Mauer zeigt und erklärt, wie sie aussehen könnte

Mein Schlitten: Georg Textor und sein Matra Rancho

Rookie am Start: Als Laie im DTM-Racer über den Nürburgring – kann das gut gehen? Nun ja ...

EROTIK

Playmate: Unsere Miss Dezember Nina Heitmar genießt Sonne und Freiheit auf Ibiza

STREITSCHRIFT

Seid nicht zu nett: Unser Autor warnt davor, anderen ständig gefallen zu wollen

TITELSTRECKE

Eine erotische Weltreise: Einige der besten Fotografinnen und Kamerakünstler des Planeten zeigen uns ihre 22 aufregendsten Aktaufnahmen 

STIL

Schichtwechsel: Es wird Zeit für die Daunenjacke

Hauthelden: Pflegehilfen fürs Gesicht

UHREN-SPECIAL

Up to date: Die aktuellen Männeruhren-Trends

Online-Boom: Chronext-Gründer Philipp Man über den Handel mit Luxusuhren im Netz

Zeitvertreib: Handgelenksschmuck mit Mehrwert

Alleingang: Wie der Niederländer Yvo Staudt seine eigene Uhrenmarke erschuf

LUST & LEBENSART

Paarungskunde: Die Biologin Meike Stoverock über die Macht der Frauen bei der Partnerwahl

Tagebuch einer Verführerin: Sex-Kolumnistin Sophie Andresky über die Vorzüge älterer Kerle

Playboy-Genuss: Die Drinks zum Bar-Talk-Podcast „After Hours“ von Chefredakteur Florian Boitin

KULTUR

Sting: Der legendäre Musiker über therapeutisches Pfeifen und Männer, die wie Hunde sind

Literatur, Musik & Serien: Das Beste des Monats

STANDARDS
  • Editorial

  • Making-of 

  • Leserbriefe

  • Berater

  • Cartoon

  • Impressum

  • Bezugsquellen

  • Witze

Mi., 29.12.2021
Reportagen

Lauf, Jonas, lauf!

Er ist 456 Kilometer durchs Mittelmeer geschwommen, auf dem Rad bis ans Ende Sibiriens gefahren und in 120 Marathons durch Mexiko gelaufen. Jonas Deichmann hat als erster Mensch per Triathlon die Welt umrundet. Die Geschichte eines epischen Abenteuers.

Auf der Straße nach Tehuacán im Süden Mexikos wird es ihm irgendwann zu viel. Nicht die Hitze macht ihn fertig, nicht der hin und wieder schmerzende Knöchel, nicht die Tatsache, dass er in den vergangenen zwei Monaten täglich einen Marathon gelaufen ist. Es ist die Zuneigung der Menschen, die Jonas Deichmann zu schaffen macht.

Denn die äußert sich auch in Geschenken. Und die wiederum erhält er in dem ländlichen Gebiet, das er gerade durchquert, in Form von Melonen. Sechs Stück liegen schon neben seinem Minimalstgepäck in dem kleinen Anhänger, den er hinter sich herzieht. Sechs kiloschwere Präsente von Menschen, die an der Straße standen, ihn anfeuerten wie einen Volkshelden und ihm eine Freude machen wollten. Genau wie die Frau, die nun ein Stück neben ihm herläuft und zwei weitere Melonen in seinen Wagen packt. Was macht man da? Zähne zusammenbeißen, sich bedanken und lächeln. Was sonst?

Dabei macht jedes Gramm Ballast die Sache natürlich nur noch schwerer. Und schwer ist sie ja nun wirklich, die Umsetzung dieser Idee, deretwegen Deichmann seit September 2020 um die Welt schwimmt, radelt und läuft.

Über den Ironman auf Hawaii kann Deichmann nur lächeln. Er hat sich mehr vorgenommen: einen Triathlon um die Welt

Deichmann, 34, macht Triathlon. Aber keinen dieser gemütlichen Volkstriathlons um den Baggersee, und auch über den Ironman auf Hawaii, bei dem 3,9 Kilometer im Wasser, 180 auf dem Rad und 42 in Joggingschuhen auf dem Programm stehen, kann Deichmann nur lächeln. Er hat sich mehr vorgenommen: einen Triathlon um die Welt, 120-mal die Ironman-Distanz, in 14 Monaten.

Es ist Ende August, und er hat etwa vier Fünftel seiner Strecke um die Welt bereits hinter sich, als er in Südmexiko unterwegs ist und am Telefon von dem Melonen-Dilemma erzählt. „Ablehnen kann ich sie ja nicht, das wäre hier eine Beleidigung, aber so langsam wird das mit den Geschenken fast schon stressig“, sagt er und klingt dabei ein wenig ungläubig, als könne er immer noch nicht ganz fassen, was in den vergangenen Monaten passiert ist.

Seit seiner Ankunft in Mexiko Anfang Juni ist Deichmann dort zur nationalen News-Story geworden und läuft durch das Land wie einst Kinoheld Forrest Gump durch die USA. Bejubelt, bestaunt und bekannt wie ein bunter Hund. Reporter interviewen ihn, Bürgermeister empfangen ihn, Menschen beschenken ihn. Und er strahlt, staunt, dankt und rennt. Immer weiter. Zum Ozean. Richtung Heimat. Dorthin, wo er vor rund einem Jahr losgezogen ist, als er noch nichts wusste von all den schmerzhaften Stunden, die ihn unterwegs erwarten würden: an der kroatischen Küste, an den ungewissen Tagen in Istanbul, von den mental harten Wochen in Sibirien und von den verrückten Monaten in Mexiko.

Keinen Rekord brechen, sondern einen aufstellen: Nie vor ihm versuchte ein Mensch das, was er tut

Es ist nicht lange her, da verbrachte Deichmann, der in einem Dorf bei Pforzheim aufgewachsen ist, seine Tage als Sales-Manager bei einem IT-Unternehmen. Er war noch dort angestellt, als er im Sommer 2017 seine erste Ultralang-Distanzfahrt mit dem Rad unternahm: von Cabo da Roca in Portugal bis Wladiwostok an Russlands Pazifikküste, 14.331 Kilometer in 64 Tagen. Im Jahr darauf kündigte er seinen Job, um sich ganz dem Extremsport zu widmen. Das nächste Abenteuer: auf dem Rad von Alaska bis Feuerland, 23.112 Kilometer in 97 Tagen, gefolgt von einem weiteren Trip im Herbst 2019, der ihn vom Nordkap nach Kapstadt führte, rund 18.000 Kilometer, 72 Tage inklusive Lebensmittelvergiftung, Dehydrierung, politischen Unruhen. Und dann, im September 2020, begann er das ganz große Ding: den Triathlon um die Welt.

Läuft alles wie erhofft, und es sieht einige Wochen vor der geplanten Rückkehr im November so aus, dann wird er am Ende 456 Kilometer geschwommen, etwa 5000 gelaufen und gut 21.000 Kilometer geradelt sein. Er wird keinen Rekord brechen, sondern einen aufstellen, weil natürlich noch kein Mensch so etwas versucht hat.

„Am schönsten ist es hier in Mexiko. Vor allem die 400 Kilometer durch die Wüste von Baja California waren ein Highlight“

Seine bisherige Route: mit dem Rad von München an die Adria, dann schwimmend die Küste runter bis Dubrovnik. Weiter mit dem Rad durch den Balkan, die Türkei und das unendliche Russland. Schließlich mit dem Flugzeug über den Pazifik und joggend durch Mexiko. Hat er auch diese Passage überstanden, sieht sein Plan vor, per Segelboot weiter nach Europa zu reisen und von Portugal aus mit dem Rad zurück nach München zu fahren. Aber mit den Plänen ist das so eine Sache. Das hat Deichmann in dem guten Jahr, das er nun unterwegs ist, häufiger festgestellt.

Mexiko zum Beispiel war gar nicht Teil der ursprünglich geplanten Route. Und nun könnte er allein über diesen Abschnitt ein ziemlich dickes Buch schreiben. Fragt man Deichmann am Telefon, wo es bislang am schönsten war, muss er nicht lang überlegen: „Hier in Mexiko. Vor allem die 400 Kilometer durch die Wüste von Baja California waren ein Highlight.“ Eigentlich wollte er durch die USA laufen. Als das wegen der Pandemie unmöglich wurde, änderte er seine Route. Und so steht er Anfang Juni am Strand von Tijuana neben dem stählernen Grenzzaun zu den USA und trabt los. 120 Marathons an 120 Tagen trennen ihn damals von Cancún auf der anderen Seite des Landes. Ein Lauf, den er nie vergessen wird.

Nach ein paar Tagen schon landet Deichmann mit seiner Triathlon-Story im mexikanischen Radioprogramm, ein Sender gibt ständig seine Position durch, der nächste Radiosender greift die Geschichte auf, Zeitungen und TV-Stationen folgen, sogar CNN, und bald ist für Deichmann nichts mehr, wie es war: Ständig halten Autos, er muss für Selfies posieren, verliert den Laufrhythmus, bekommt dafür aber viel zurück. Einmal springt eine Gruppe Mariachi aus dem Auto, um für ihn zu singen: „Das war Motivation für mehr als einen Marathon“, schwärmt er, „auch bei 40 Grad Hitze.“ Ein Fischer schenkt ihm eine Mexiko-Flagge, die er an seinem kleinen Anhänger montiert, was die Begeisterung im Land noch mehr befeuert. In Santa Rosalia läuft er mit Polizei-Eskorte ein – eine Ehre, die in den folgenden Wochen zum Standard wird genauso wie der Empfang beim Bürgermeister und Sightseeing-Touren mit Tourismusministern. In der Millionenstadt Leon regeln acht Polizisten auf Motorrädern den Verkehr für ihn. In Aguascalientes erwartet ihn das Erstliga-Baseball-Team Rileros, dessen Maskottchen mit ihm joggt, bevor Deichmann im Stadion die Ehre des „first pitch“ zuteilwird: Er darf den ersten Ball der Saison werfen.

Und dann ist da noch die Geschichte mit der Hündin: Wie er nebenbei La Croqueta rettete

Oder die Geschichte mit der Hündin: In El Salto will der lokale Laufclub ein paar Kilometer mitrennen samt einer Straßenhündin namens La Coqueta. Die mag den bärtigen Mann aus Alemania, schläft vor seinem Zelt und begleitet ihn fortan. Die Story spricht sich herum, sodass Herr und Hündin beim nächsten Stopp in Durango von 100 hupenden Autos samt Polizei empfangen werden. Ein Dutzend Interviews muss Deichmann geben, bekommt von den Stadtoberen im „Hotel Casablanca“ ein nobles Zimmer mit Blick über die Altstadt spendiert. Am nächsten Morgen meldet sich via TV eine Familie, die La Coqueta adoptieren will, und so gibt es tatsächlich einen Empfang für „Mexikos berühmteste Hündin“ samt Medaille und Hundehütte.

Deichmann trabt weiter ohne La Coqueta, dafür manchmal mit 80 Mitläufern. Einmal schwärmen ihm einige von ihnen von einem Traumstrand vor, verschätzen sich aber, und Deichmann rennt statt der üblichen 42 Kilometer am Tag 58 Kilometer. Mal läuft einer als aztekischer Krieger verkleidet in Sandalen einen ganzen Marathon mit, mal begleitet ihn ein Einbeiniger auf Krücken ein Stück, ein anderes Mal die Militärpolizei mit Maschinengewehr in der Hand: „Die dürfen ihre Waffen nicht im Auto lassen“, erklärt Deichmann. In der Sierra Madre, die vom Sinaloa-Kartell kontrolliert wird, läuft keiner mehr mit. Der Deutsche gerät in eine Narcos-Patrouille: ein Ru- del „Falcones“, halbstarke Jugendliche auf Dirtbikes mit Walkie-Talkies und Pistolen im Gürtel. „Die wussten längst, wer ich bin“, erzählt Deichmann, „ihr Boss hat mich ausgefragt, aber nur gesagt: ‚Hier bist du sicher. Wir passen auf dich auf. Gute Reise!‘“ Das Filmteam aber, das Deichmann ab und zu begleitet, bekam sehr klare Anweisungen, wo die Kamera-Drohne fliegen darf und wo nicht.

„Die Option Scheitern gibt es für mich nicht, da denke ich gar nicht drüber nach.“

Ein per Crowdfunding finanzierter Dokumentarfilm wird nächstes Jahr zu sehen sein. Das Buch zum Triathlon soll im Dezember erscheinen. Und in die Vorträge und Motivationsreden, die Deichmann seit Jahren anbietet, wird seine Weltreise natürlich auch einfließen: „Die Kunst, nie aufzugeben“ heißt sein Standardvortrag. Auf der Homepage dokumentiert er sein Tun per Tagebuch, Bilder und Kurzvideos. Das Erzeugen von Öffentlichkeit dient nicht bloß der möglichst gründlichen Verwertung seiner Leistung, sondern auch dazu, sich kein Hintertürchen offen zu lassen: „Create social pressure! Erzähl es jedem! Ein wichtiger Punkt bei solchen Projekten“, sagt Deichmann.

Das Ganze sei zu 90 Prozent Kopfsache. „Die Option Scheitern gibt es für mich nicht, da denke ich gar nicht drüber nach.“ Sein Mantra: nie wieder „könnte“, „womöglich“, „vielleicht“! Bloß nicht in der täglichen Routine stecken bleiben, sondern seinen Träumen folgen! Nachdenken, aufschreiben! Viele Menschen hätten Angst, die Komfortzone zu verlassen, Angst vorm Scheitern – genau das sei aber Teil eines erfüllten Lebens, man könne daraus lernen. Er bereue nichts, nur die Dinge, die er nie versucht habe. „Mir geht’s um die Erlebnisse, die Abenteuer. Ich bin zwar allein in der Wildnis, aber nie einsam. Und wenn ich alt bin, werde ich nicht reich sein, aber reich an Erfahrungen und Erinnerungen.“

26. September 2020: Der Start am Münchner Odeonsplatz bei Wind und Wetter – die perfekte Einstimmung auf die kommenden Monate

Auch der Start am Münchner Odeonsplatz am 26. September 2020 wird ihm im Gedächtnis bleiben: ein Wetter, bei dem man keinen Hund vor die Tür jagt – die perfekte Einstimmung auf die kommenden Monate. Eine Handvoll Freunde und Berichterstatter frösteln, als Deichmann aufs Rad steigt, die Feldherrnhalle rechts liegen lässt und sich samt Bruder Siddy und einem Kameramann Richtung Adria aufmacht. Die erste Routenänderung: Da Tirol Corona-Risikogebiet wird, geht es über die Tauern. Großglockner-Pass: gesperrt, zu viel Schnee – im September. Nach sechs Tagen erreicht er das kroatische Karlobag. Hier beginnt für ihn der härteste Teil: „Ich bin Radfahrer, ein ganz anständiger Läufer, aber überhaupt kein Schwimmer.“

Deichmann schlüpft in den Neoprenanzug, wirft sein wasserdichtes Swim-Pack, das er mit dem Allernötigsten hinter sich herziehen wird, ins Meer und springt hinterher. Als er 54 Tage und 456 Kilometer später in Dubrovnik aus dem Wasser steigt, lautet einer seiner ersten Sätze: „Hiermit beende ich meine Schwimmer-Karriere. So was mache ich nicht noch mal!“

Die Zeit im Meer: eine Tortur. Mund und Rachen sind entzündet vom ewigen Salzwasser, überall hat er Scheuerstellen und offene Wunden, die nicht heilen. Strömungen ziehen ihn raus aufs offene Meer, dazu ständig die Bedrohung durch Tanker, die seinen Weg kreuzen. Acht bis zehn Kilometer schafft er am Tag, mit Wind maximal 16, bei Sturm auch mal null. Oft übernachtet er auf Felsen, selten schläft er länger als sechs Stunden. Ab und zu bekommt er Besuch von Delfinen, sonst beeindruckt ihn die Unterwasserwelt nicht allzu sehr: „Mal eine Plastiktüte oder ein Kühlschrank, teilweise mehr Müll als Fische.“

Eine Zwangspause, die den Druck erhöht

Nach der Quälerei denkt er: „Der schwerste Teil ist geschafft, jetzt hast du noch ein bisschen Spaß.“ Doch es kommt anders. Mit dem Rad von Dubrovnik über Albanien und Bulgarien in die Türkei: easy. Dann aber steckt er sieben Wochen in Istanbul fest. Die Grenze zu Russland ist dicht, die Alternativroute über den Iran ebenfalls. Weihnachten verbringt er im Olivenhain in Bodrum, Silvester in einer Bar, die um neun dichtmacht. Dazwischen immer wieder Telefonate und Mails mit dem Konsulat. Die Deutsche Triathlon Union, das Deutsch-Russische Forum und Russlands Olympia-Komitee setzen sich für ihn ein, und erst nach zig Volten bekommt er sein Visum – gerade als in Istanbul der heftigste Schneefall seit 25 Jahren einsetzt.

Die Zwangspause hat den Druck erhöht: Nur 60 Tage bleiben Deichmann für 10.000 Kilometer durch Russland, Tagesetappen von 200 bis 280 km sind keine Seltenheit bei Temperaturen und Straßen, die wahrlich nicht für Radfahrer gemacht sind. Gut, dass er vorab in einer Kältekammer der Deutschen Bahn getestet hat, wie die Elektronik auf Extremtemperaturen reagiert, wie man bei minus 30 Grad einen platten Reifen wechselt und ob das spezielle Schmieröl aus der Flugindustrie auch in dieser Kälte noch schmiert. Abends baut er am Straßenrand sein Zelt auf, oft auf gefrorenem Untergrund. Er sagt: „Ein bisschen kalt ist ja immer noch Komfort.“ Einmal stürzt er bei Kühlschranktemperatur vom Rad, landet in einer Pfütze – und fährt in klatschnassen Klamotten weiter. Ein 9-Sekunden-Clip zeigt ihn wenig später im Schneesturm mit Eisbrocken im Bart, aber auf dem Rad, klar.

Hinter dem Ural wird es kurzzeitig schön: Rückenwind, 40 km/h ohne Treten! Es folgen brutal monotone Abschnitte im sibirischen Nirgendwo: 2100 Kilometer bis zur nächsten Stadt, nur ein paar Dörfer, die 100 Kilometer auseinander liegen. „Mental noch anstrengender als schwimmen“, sagt Deichmann. Sein Tipp: keine Pausen. Wieder reinzukommen sei viel anstrengender als weiterzufahren. Auch wichtig: nicht ständig das Wetter checken. Experience it! Er sieht Bären und Wölfe, nimmt ein Eisbad im Baikalsee, feiert Geburtstag mit Kuchen aus dem Supermarkt – und muss aufs Tempo drücken: Dass ihm in Russland das Visum abläuft, will er nicht erleben.

Er schafft es rechtzeitig nach Wladiwostok, wo sich die nächste Zwangspause auftut: Wegen Corona findet sich weder ein Segelboot noch ein Cargo-Schiff, das ihn mit nach Mexiko nehmen kann. Doch statt sich von der Quälerei auf dem Rad zu erholen, nimmt Deichmann an einem Mountainbike-Marathon teil, und obwohl er sein Gravel-Bike bergab schieben muss, wird er Sechster. Faul im Bett zu liegen ist einfach nichts für ihn.

„Mein Traum war immer ein Mix aus. Abenteuer und Ausdauer. Was Wildes, ohne Team.“

Als Kind ist er mit dem älteren Bruder durch den Nordschwarzwald gerannt, später sind sie mal 100.000 Höhenmeter durch die Alpen geradelt. Während seines Wirtschaftsstudiums tourte er mit dem Bike um die Welt, 70 Staaten, 60.000 Kilometer, und saß in Hörsälen in sieben verschiedenen Ländern. Das Austauschsemester in Singapur dauerte aber nur einen Tag: „Ich habe es von Anfang an gehasst. Singapur war voll, teuer, keine Natur weit und breit.“ Nach zwei Tagen mietete er sich ein Strandhaus in Malaysia und studierte von dort aus, lebte einen Mix aus Lerndisziplin und Happy Life. „Ich habe mich nur gewundert, dass keiner der Kommilitonen mitmacht“, sagt er.

Zurück in Europa, spülte es ihn für den Master’s Degree nach Kopenhagen. „Im Spätsommer war das schön“, erinnert sich Deichmann, doch dann: Regen, angeblich bis April. Eine Woche später saß er auf Teneriffa, im Strandhaus, und beugte sich dort über die Bücher. Er zog weiter nach Spanien, Brasilien, Indien, radelte durch 20 Länder, verbrachte bis zum Studienabschluss nur vier Wochen in Kopenhagen, schaffte dennoch einen Top-Abschluss und landete bei einer IT-Firma in München, deren Chef ihm bei einer Party versprach, seine erste Ultralang-Distanzfahrt von Portugal nach Russland 2017 zu finanzieren. „Mein Traum war immer ein Mix aus. Abenteuer und Ausdauer“, sagt Deichmann, „was Wildes, ohne Team.“ Man könnte sagen, das hat geklappt.

In Mexiko angekommen, soll es jeden Tag ein Marathon sein. Und dann jeden Tag ein weiterer

Was dagegen nicht klappt: Deichmanns CO2-freie Überquerung des Pazifiks von Wladiwostok nach Mexiko. Notgedrungen steigt er ins Flugzeug und steht dann, Anfang Juni, in Tijuana vor einem unfassbaren Kilometer-Berg. Sieben Monate ist er nicht gelaufen, nun soll es gleich ein Marathon sein – und dann jeden Tag ein weiterer. Am Morgen nach dem ersten 42-Kilometer-Lauf hinkt er, der Anhänger mit dem Gepäck bereitet ihm Rückenschmerzen, mal zieht er ihn, mal schiebt er ihn. Seine Lösung: die Schmerzen Tag für Tag weglaufen.

Wie alt fühlt man sich nach ei- nem Jahr on the road? „Frisch, jung und munter“, ruft er ins Telefon. Der Körper habe sich an die verschiedenen Disziplinen angepasst: Für das Schwimmen hatte er wegen der Kälte Muskelmasse aufgebaut und statt 75 circa 80 Kilo gewogen. Auch für das Radfahren in der Kälte Sibiriens hatte er sich Fettreserven zugelegt. „Aber jetzt bin ich spindeldürr und zehn Kilo leichter.“ Jedes zusätzliche Gewicht bedeute mehr Belastung für die Gelenke. „Beim Laufen waren die ersten vier, fünf Tage brutal hart, weil ganz andere Muskeln gefragt sind. Aber dann hat sich der Körper angepasst, und es ging von Tag zu Tag besser.“

Rund 6000 Kalorien verbrennt Deichmann pro Tag. „Ich esse nonstop: Tacos, Burritos, Schokolade, einfach alles, was ich so finde. Funktioniert ganz gut, gerade in Mexiko, wo es leckere Spezialitäten gibt: Heuschrecken, Würmer, Skorpione – gute Proteine!“ Er lacht. Bis jetzt hat er alles gut vertragen. In Russland sei es schwieriger gewesen mit dem Essen, da fing er sich eine Lebensmittelvergiftung ein. Seine Reaktion? „Ignorieren und weiterfahren!“ Jede andere Antwort hätte verwundert.

„Mir geht’s um das Abenteuer. Ich stehe jeden Morgen auf und weiß: Heute erlebe ich was, das ich noch nie zuvor erlebt habe“

Besuche von Klapperschlangen, Taranteln und Skorpionen landen bei Deichmann im Ordner „Nichts Besonderes“. Und jeden Tag einen Marathon zu absolvieren, auch daran hat er sich gewöhnt. „Es gibt jeden Tag einen Punkt, an dem es wehtut, wo man müde ist. Aber das muss man halt überstehen, dann läuft’s auch wieder locker.“ Hilft der Rekord bei der Motivation? Die Aussicht, als Erster einen Welt-Triathlon gemeistert zu haben? „Er ist ein Bonus. Aber mir geht’s um das Abenteuer. Ich stehe jeden Morgen auf und weiß: Heute erlebe ich was, das ich noch nie zuvor erlebt habe. Darauf freue ich mich jeden Tag. Allein die Begegnungen mit den Menschen hier, das ist so verrückt, jeden Tag eine Überraschung, immer etwas Unvorhergesehenes.“

Bis Ende November wird Deichmanns Reise wohl noch dauern. Wie er über den Atlantik und zurück nach Europa kommt, ist zum Zeitpunkt des Drucks dieser Ausgabe unklar. Ein Segelboot, das ihn mitnimmt, hat er noch nicht gefunden. „Ich werde wahrscheinlich fliegen müssen“, sagt er Ende September. Fest steht: Die letzten 2500 Kilometer von Portugal soll es mit dem Rad heim nach München gehen: „Das ist nur noch ausrollen“, sagt Deichmann. Das relativ entspannte Ende eines großen Abenteuers. Und dann?

„Dann gibt es erst mal Maultaschen“, sagt er. Die große Leere, das Loch nach anderthalb Jahren voller intensiver Erlebnisse fürchtet Deichmann nicht. Er hat vorgesorgt. „In Mexiko hatte ich in der Wüste viel Zeit zum Nachdenken – und nun steht bereits das neue Projekt. Das wird dann aber schon ein bisschen länger und schwieriger.“ 

Titelbild: Markus Weinberg