Mi., 20.02.2019
Kommentar

Streitschrift: Tattoos – Ein Mode-Irrtum für immer

Unser Autor, der Moderator und Kolumnist Micky Beisenherz, bedauert die vielen Millionen Opfer des großen Stechens, das in den 90er-Jahren begann. Und ist froh, dass er selbst bislang verschont blieb.

 

Die Haut ist der Spiegel der Seele, so heißt es. Im Hochzeitalter der Tätowierungen allerdings ist man wohl besser bedient mit einer modernen Adaption: Die Haut ist nicht ihr Spiegel – sie ist ihr Facebook-Eintrag. Wie konnte das alles so fürchterlich schieflaufen? Und viel wichtiger noch: Wie konnte ich, der noch kaum einem flüchtigen Trend entkommen ist, ausgerechnet um eine langfristpeinliche Bemalung herumkommen? Natürlich bin ich ausgesprochen froh darüber. Mit 41 gehe ich auch davon aus, dass das noch geschehen wird.

Wenn man mit Eintritt in die 40er ein Wagnis eingehen will, echten Nervenkitzel verspüren möchte, dann kann man zur rektalen Darmkrebsvorsorge gehen, eine syrische Familie aufnehmen oder einen jüdischen Delikatessenladen in Berlin-Neukölln aufmachen. Dinge wie Longboard fahren, eine Deutschrapgruppe gründen oder einen Motorradführerschein machen, zählen ganz gewiss nicht dazu. Es gibt doch auch schöne E-Bikes, Herrgott. Tätowierungen sollten nur dann auf der Bucket List stehen, sollte es sich bei diesem „Bucket“ um einen Schweineeimer handeln.

Wo liegt der tiefere Sinn darin, sich Farbe unter die Epidermis tackern zu lassen?

Seien wir doch mal ehrlich: Wo liegt der tiefere Sinn darin, sich Farbe unter die Epidermis tackern zu lassen? Der Ausweis von Individualismus kann es nicht mehr sein. Geht man heute durch ein handelsübliches Freibad, wähnt man sich in einer Art Stromkasten-Museum, so dilettantisch bemalt und bekrakelt sind die Exponate, die man da zu sehen bekommt. Ein unbemalter Körper ist hier so selten anzutreffen wie ein gerader Satz. Aber das nur am Rande. Ich möchte nicht unken, aber mitunter wirkt es so, als habe man einen Schimpansen mit Schlaganfall auf Hunderte hilfloser, unbekleideter Berufsschüler losgelassen.

Kann man noch originell tätowiert sein? Nehmen wir nur das Jahr 1996. Damals machte ein Streifen namens "From Dusk Till Dawn" recht schnell die Runde. Die einen hielten Rodriguez’ Vampir-Roadmovie für absolut missratenen Splatterkäse. Andere fanden ihn nicht so gut. Einig war man sich lediglich, dass der Schlangentanz von Salma Hayek auf Wiedervorlage geht, sobald man mit der DVD allein ist und, natürlich: das Tattoo von George Clooney. Damals wanderten großflächig-schwarze flammenähnliche Gebilde von seinem Schlüsselbein über die Schulter den Arm herab bis zum Handgelenk. Wenige Monate nach Aufführung hatte so ziemlich jeder von Bottrop bis Boston diesen Style auf der Extremität. Wirklich jeder! Bis auf Clooney natürlich. Der war beileibe nicht so bescheuert.

Credit: Playboy Germany

Nein, wirklich, es gab Mitte/Ende der 90er keine Diskothek im Ruhrgebiet, an deren Tür nicht mindestens drei von drei Empfangsprimaten mit diesem Asi-Fresko standen. Nur circa zwei Jahre später, ich machte gerade Zivildienst, tauchte auf einer zu Recht vergessenen Verleihung die damals noch sehr bekannte Sabrina Setlur auf in einem am Rücken so tief ausgeschnittenen Kleid, dass man oben bereits erwähnte Vorsorgeuntersuchung locker zwischen rotem Teppich und Canapé hätte erledigen können. Was die Robe bewusst freilegte, war ein zu diesem Zeitpunkt noch atemberaubend großes und regelrecht verwegenes Tribal, welches über den kompletten Steiß verlief.

Eine Massenpunktion, in deren Folge Tätowierer sich förmlich wund pixelten

Die Folge war absehbar: Ähnlich der Clooney-Flamme setzte eine Massenpunktion ein, in deren Folge Tätowierer sich förmlich wund pixelten. Alles zwischen 15 und 45 wollte dieses CMA-Gütesiegel haben! 16-jährige Mädchen fälschten Pässe, Lebensläufe und tauchten mit Schauspielern auf, die ihre Eltern spielten, um diese Kunst am Körper gütig durchzuwinken. Frauen, ja, sogar Männer! (Ich habe mal eines gesehen. Der Kollege bückte sich, und ich habe geschaut wie Louis de Funès.) Eine gesamte Branche war buchstäblich am Arsch. Steiße in der Größe der Sixtinischen Kapelle wurden mit Hektolitern Farbe unterspritzt, dass es zwischenzeitlich zu regelrechten Versorgungsengpässen kam. Eine Freundin von mir – mittendrin. Dreimal startete sie einen Versuch. Lediglich ein gewissenhafter Hautmaler konnte sie davon abhalten. Vor oder während eines Surf-Urlaubs oder kurz vor einem langen Rückflug aus Australien bestanden schlicht medizinische Bedenken. Ihr Glück.

Kurze Zeit später fand das eben noch so verruchte Steiß-Tattoo sein jämmerliches Ende als „Arschgeweih“ oder „Schlampenstempel“ und ward fortan nicht mehr bei Gala-Premieren gesehen, sondern als mahnend leuchtender Rumpf, der an mallorquinischen Stränden aus dem Sangria-Eimer hängt, und zentraler Bestandteil des RTL2-Hau(p)tprogramms.

Bedenkt man, dass ich 1997 zwanzig Jahre alt war, muss man sagen: Ich hatte mehr Glück als Verstand. Das höchste der Gefühle war, dass ich mal darüber nachdachte, mir ein „Tattoo Sleeve“, also ein Langarm-Shirt mit aufgedrucktem Zierrat zu kaufen, weil Enrique Iglesias das mal in einem Musikvideo trug – und bei Gott, ja, ich weiß, wie unglaublich traurig das ist.

Tätowierungen trugen früher Seeleute, Knackis oder Schausteller – heute Baristas und Profi-Fußballer

Tätowierungen trugen früher Seeleute, Knackis oder Schausteller. Heute kannst du davon ausgehen, dass die bunt bemalten Arme zu einem Barista oder einem Profi-Fußballer gehören – und es geht so rasend schnell. Lionel Messi, bis dato gern als Autist auf dem Fußballfeld betrachtet, hatte sich innerhalb einer Halbzeitpause scheinbar komplett durchstechen lassen. Selbst der sonst so brave Toni Kroos trägt mehr Farbe auf dem Arm, als der Tuschkasten seiner Kinder hergibt. Soll wohl Wildheit suggerieren. Beißt sich aber ein wenig mit seinem Musikgeschmack. Der Mann ist Pur-Fan. Seufz.

Aus dem Abenteuerland Tattoo-Studio kam Marco Reus mit einem interessanten Motiv wieder heraus. Auf seinem Arm steht schlicht: Marco Reus. Gut, möchte man sagen. Immerhin schon mal garantiert eine richtige Antwort bei der theoretischen Führerscheinprüfung.

Credit: PR

Der von mir verehrte Sylvester Stallone hat erst mit Mitte 60 angefangen, sich großflächig tätowieren zu lassen. Es wirkt bedürftig. Nicht, dass es noch eines Beweises bedurft hätte, dass Rocky mit dem Alter in etwa so gut klarkommt wie Harvey Weinstein mit dem Wort „nein“.

Dann vielleicht doch lieber ein Motorrad.

Tätowierungen gefallen mir. Ich finde sie oft sehr schön. Fast sehnsüchtig blicke ich darauf. Als Ausdruck von Individualismus indes taugen sie nicht. Da ist der unbemalte Körper eine erstrebenswerte Minorität. Und, hey, nichts gegen Körperkunst, nur: Wenn man bedenkt, dass das Tattoo auf der Haut miterschlafft, schafft man vermutlich weniger einen neuen da Vinci – eher die zerlaufenen Uhren von Dalí.

Will man das?

Über den Autor: Der 41-jährige Moderator und Kolumnist schreibt als Autor unter anderem für TV-Formate wie die ZDF-„heute-show“ und das RTL-Dschungelcamp. Der Text über Tattoos war ein exklusiver Vorabdruck und erschien am 19. Februar in seinem neuen Buch „...und zur Apokalypse gibt es Filterkaffee – Dinge, von denen ich nichts verstehe über die ich aber trotzdem schreibe“ (Rowohlt Polaris, 14,99 Euro). Ab Mai geht Beisenherz auch auf Tournee, der Vorverkauf läuft.