„Freiheit wird einem erst bewusst, wenn sie nicht mehr da ist“


Herr Gareis, Sie sind über 8.000 Kilometer entlang des „neuen Eisernen Vorhangs“ gereist. Was war für Sie der überraschendste Moment auf dieser Reise?
In der Slowakei habe ich einen Mann getroffen, der sein Leben riskiert hat, um Putin seine Dienste anzubieten. Der Kerl ist Komponist und hat an der Oper in Kosice gearbeitet. Er war der Meinung, dass die Revolution in seinem Land ein Fehler war, die Demokratie ein Betrug an den Menschen ist. Überall nur Chaos und Korruption, kein Zusammenhalt mehr, keine gemeinsame Erzählung. Er hat seine Sachen zusammengepackt, und ist nach Narva in Estland gereist, hat seine Sachen in wasserdichten Säcken verstaut, sich einen Neoprenanzug angezogen und ist in der Nacht durch den eisig kalten Grenzfluss nach Russland geschwommen.
Eigentlich wollte er zu Fuß weiter nach St. Petersburg, ließ sich aber von Grenzschützern aufgreifen, weil er bis auf die Knochen durchgefroren waren. Die hielten ihn für einen Spion und steckten ihn ins Gefängnis. Das tat seiner Bewunderung aber keinen Abbruch und er schwärmte mir vor, dass die Häftlinge dort Pushkin lasen, während in seiner Heimat die Menschen nur noch stolz auf den örtlichen Fußballklub seien. Diese Begegnung war natürlich extrem, aber es war nicht die Einzige, die ich mit Menschen hatte, die sich als Verlierer der Demokratie fühlen, die Vergangenheit verklären und sich nach einer starken Hand sehnen.
Viele Ihrer Gesprächspartner haben traumatische Erfahrungen mit Russland oder der Sowjetunion gemacht. Gab es eine Geschichte, die Sie besonders bewegt hat?
Eine? Auf dieser Reise haben mich so viele Geschichten tief berührt, das war wirklich ein Geschenk. Wie zum Beispiel die von Aira, die auf den Barrikaden für die Unabhängigkeit Lettlands kämpfte. Oder die von Pastor László Tőkés, an dem sich die rumänische Revolution gegen Ceaușescu entzündete. Aber die Begegnung, zu der ich in Gedanken immer wieder zurückkehre, gerade in düsteren Stunden, ist das Treffen mit der 96-jährigen Irene. Als 13-jährige wurde sie, wie viele andere auch, von der Besatzungsmacht Sowjetunion aus ihrer litauischen Heimat in die ferne Eishölle Sibiriens deportiert. Es gab kaum etwas zu essen, es war bitterkalt, die Schwachen starben zuerst.
Irene schaffte es, sich ihre Menschlichkeit zu bewahren, ihre Hoffnung, dass sie wieder frei kommen würde, die Heimat wiedersehen würde. Sie hat mir erzählt, dass das Überleben nicht nur von der Nahrung abhängt, sondern auch von dem, was man im Herzen trägt. Heute arbeitet sie in einem Freilichtmuseum und gibt unermüdlich ihre Geschichte und ihr Wissen an jüngere Generationen weiter und stellt ihnen zum Schluss immer wieder die gleiche Frage: „Schaut her, das alles haben wir gemacht, wir dürfen wieder alles sagen, was wir wollen, wir dürfen singen, was wir wollen, leben wie wir wollen. Aber was macht ihr jetzt mit dieser Freiheit?“ Für mich war das einer der Grundgedanken dieser Reise. Zu oft nehmen wir Freiheit als selbstverständlich hin. Meistens wird sie einem erst bewusst, wenn sie nicht mehr da ist.

Gibt es einen Ort auf der Route, an den Sie unbedingt zurückkehren möchten?
In den polnischen Masuren erlebte ich einige schöne Tage auf einem ehemaligen Gutshof und genoss die Weite und die vielen Störche, die den Himmel kreuzten. Das Dorf Sinemorets in Bulgarien am Schwarzen Meer gefiel mir ebenfalls gut. Aber am liebsten würde ich nach Finnland zurück. Ich liebe Wald und Wasser, und von beidem hat Finnland im Überfluss. Dazu so wenige Menschen, dass drei Autos auf der Straße schon Rush Hour bedeuten. Außerdem mag ich die Finnen, mit ihrer stoischen, stillen Art, ihrer gesunden Einstellung gegenüber der Natur. In Deutschland bekomme ich oft Atemnot bei den ganzen Menschenmassen, ständig hat man hier seine Artgenossen um sich herum und kommt kaum zum Nachdenken, weil einem dazu der Platz, die Muse fehlt.
Reisen ist das eine, ein Land wirklich zu erleben das andere. Was macht für Sie den entscheidenden Unterschied?
Unbedingt Platz lassen für den Zufall. Dank Internet und Smartphone neigen wir dazu, alles schon vorher anzuschauen und durchzubuchen. Eigentlich wollen wir so negative Überraschungen vermeiden. Leider gilt das dann auch für die positiven Überraschungen. Was ich gerne mache, ist den Reiseführer ignorieren, mir eine Landkarte kaufen und dann nach Geratewohl in irgendwelche Landesteile zu reisen. Ein bisschen Beschwerlichkeit schadet auch nicht, Dinge dürfen ruhig schief gehen, daraus entstehen dann die besten Geschichten, an die man sich viel länger erinnert als an die Strandliege und im besten Falle kommt man so auch der einheimischen Bevölkerung viel näher. Zu einer Einladung sollte man übrigens immer ja sagen.
Wenn Sie nach dieser langen Reise ein Fazit ziehen: Was sollten wir in Westeuropa über die Länder entlang der östlichen EU-Grenze unbedingt besser verstehen?
Vielleicht lasse ich dazu am besten mal einer meiner Gesprächspartner zu Wort kommen, ein Litauer, der seit 13 Jahren ein Hostel betreibt. Den hat es total gefuchst, dass wir im Westen so gut wie nichts über seine Heimat wüssten, dabei sei sie nur ein Land von Deutschland entfernt. „Aber die Deutschen und die anderen sind einfach echt ahnungslos, für die ist Europa nur der Westen. Und überhaupt, was soll dieses dämliche Konzept Osteuropa? Für die meisten bedeutet das doch: gefährlich, arm, du wirst ausgeraubt. Manche fragen mich sogar, habt ihr iPhones in Litauen? Man muss sich eben fragen, wer von diesem Konzept profitiert. Und das ist halt Russland. Je mehr Leute unwissend bleiben, desto eher verstärkt sich der Glaube, dass Osteuropa ja vernachlässigbar und entbehrlich sei.“

Hinzu kommt, dass die Narben, die die sowjetische Besatzung geschlagen hat, noch lange nicht verheilt sind. Die baltischen Ländern haben zum Beispiel lange vor Putin gewarnt, eigentlich so wie Churchill vor Hitler in den 30er Jahren, da wollte ihm auch keiner zuhören. Diese Länder wollen so etwas nie wieder erleben und in ihrer kollektiven Geschichte ist der Kampf um die Freiheit und Unabhängigkeit fest verankert, ein Teil ihrer Identität. Im Umkehrschluss schauen einige auf Deutschland und sehen uns als ein sattes, wohlstandsverwöhntes Land, das schon lange für nichts mehr gekämpft hat. Aber natürlich bilden diese Länder auch keinen einheitlichen Block, obwohl sie in der EU und in der NATO sind. Ich hoffe, auch diese Facetten zeigt mein Buch auf, das sind dann die Löcher in diesem neuen Eisernen Vorhang.
Was mir immer wieder unterwegs aufgefallen ist, ist, dass viele Menschen, die ich getroffen habe, dieser unruhigen Zeit mit Selbstbewusstsein und geraden Schultern begegnen. Ich glaube, das schlimmste was man machen kann, ist den Kopf in den Sand zu stecken oder gar zynisch zu werden. In diesem Sinne können wir viel von den Menschen dort lernen. Die Lage mag zwar ernst sein, aber nicht hoffnungslos.